Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Frau im Businesskostüm. »Was soll ich denn sagen? Ich war schon immer der burschikose Typ – knochiger Körper,
kaum Busen. Das wird mit den Jahren nicht besser. Als ich gestern im Flughafen durch die Sicherheitskontrolle wollte, schickte mich die Frau, die die weiblichen Passagiere nach Waffen abtastete, zu ihrem Kollegen.«
Erneut machte sich betretenes Schweigen in der »Altentagesstätte« breit. Ich kenne dieses Schweigen aus meinen Seminaren. Es ist das sichere Zeichen, dass die Studenten blockiert sind. Dann hilft nur eins: Brainstorming. Deshalb schlug ich vor, jeder sollte spontan sagen, was ihm Positives zu dem Begriff Älterwerden einfiel. Was auf allgemeine Zustimmung stieß.
Ich ging zur Tafel und begann das Drei-Akt-Modell wegzuwischen, das ich dort vor ein paar Tagen aufgemalt hatte, um meinen Studenten die dramatische Struktur zu erklären, die seit Aristoteles die Grundlage menschlichen Erzählens ist: Erster Akt – Beginn. Zweiter Akt – Entwicklung. Dritter Akt – Lösung. Dazwischen die Wendepunkte am Ende des ersten und zweiten Akts, wenn der Held seine vertraute Welt verlässt und dem Ruf des Abenteuers folgt. Im zweiten Akt besteht der Held alle möglichen Prüfungen und kehrt zu Beginn des dritten Akts erleuchtet in seine alte Welt zurück. Aber im Gegensatz zum Helden hat sich die alte Welt nicht verändert, sie ist stehengeblieben. Die Aufgabe des Helden ist es nun, der alten Welt zu zeigen, dass er erleuchtet wurde. Aber das ist viel schwieriger, als gegen die ganzen Monster des zweiten Aktes zu kämpfen. Wie in der Odyssee . 10 Jahre lang ist Odysseus durch die Ägäis gesegelt, hat den einäugigen Riesen geblendet und dem Gesang der Sirenen widerstanden. Jetzt will er endlich nach Hause und genießen, was mein Bankberater den »mietfreien Lebensabend« nannte. Aber daraus wird nichts. Zuhause in Ithaka hocken die Freier und beanspruchen sein Reich. Anstatt sich von der langen Reise in den Armen von Penelope auszuruhen, steht Odysseus das größte Abenteuer noch bevor.
Wie oft hatte ich meinen Studenten dieses Modell erklärt, aber mir wurde erst jetzt, als ich das Paradigma mit einem gelben
Schwamm von der Tafel wischte, klar, dass mir der dritte Akt noch bevorstand und Älterwerden kämpfen bedeutet.
»Alles in Ordnung, Thomas?« fragte Susanne besorgt. Sie hatte mein Zögern bemerkt.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, nahm ein Stück Kreide und schaute erwartungsvoll in die Runde, was den anderen Positives zum Älterwerden einfiele. Ich zum Beispiel hatte keinen blassen Schimmer.
»Graue Haare«, meldete sich Susanne.
»Was ist positiv an grauen Haaren?« maulte Andreas, der pechschwarzes Haar hatte. Bestimmt gefärbt.
»Sorry«, ermahnte ich Andreas, »aber die wichtigste Regel beim Brainstorming ist, dass keine Idee kommentiert oder bewertet wird, egal wie absurd sie auch sein mag.«
Ein dankbarer Blick von Susanne, in deren blonder Mähne bei genauem Hinschauen erste graue Strähnen auftauchten.
»Und weiter?!« Aufmunternd tippte ich mit der Kreide gegen die Tafel.
»Gelassenheit«, schlug Ingrid, die Frau im Businesskostüm vor.
Andreas hielt sich zurück mit seinem Kommentar, aber er sog hörbar Luft ein, um sein Missfallen auszudrücken, wie idiotisch er diesen Vorschlag fand. Und er hatte Recht. Wenn Alter Gelassenheit bedeutete, wären wir nicht hier. Unsere aufgeschreckte Runde war so gelassen wie ein Delinquent vor dem Erschießungskommando.
»Man kann viele schöne Geschichten erzählen, weil man so viel erlebt hat«, schlug Beate vor, die die Idee mit dem Sparschwein für böse Worte hatte.
Schöne Geschichten schrieb ich an die Tafel, während ich insgeheim dachte, dass leider keine Sau diese alten Geschichten hören will. Siehe meine Erfahrung mit meinem letzten Film, als ich aus Altersgründen gefeuert wurde.
»Sonst noch irgendwelche Ideen?« fragte ich die ratlose Runde und dachte: Warum lässt du das hier nicht platzen, dann würde ich es noch ins Stadion schaffen. Holger besitzt
eine Dauerkarte für den VIP-Bereich, weil seine Firma Sponsor bei den Bayern ist. Er darf immer jemanden mitnehmen, wobei diese gemeinsamen Stadion-Besuche regelmäßig im Streit enden, weil Holger zwar keine Ahnung vom Fußball hat, aber immer alles besser weiß. Er ist Unternehmensberater. Aber Holgers Ideen, wie man den Fußball noch profitabler machen könnte, indem man drei Drittel einführt und so zwei Pausen hat, in denen man mehr Werbung zeigen könnte … Der
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