Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
griff wieder in ihre Umhängetasche, holte ein kleines Album hervor und ließ es herumgehen. Weil ich links neben ihr saß, durfte ich als Erster die Fotos bewundern, die Beate in einem Waisenhaus für Orang-Utans auf Borneo – sorry, der korrekte Name ist »Kalimantan« – zeigte.
»Das ist Cherry!« Beate tippte auf das kleine, behaarte Wesen mit den großen traurigen Augen, das auf ihrem Schoß saß und dem sie wie einem Baby das Fläschchen gab. »Cherrys Mutter wurde von Wilderern erschossen. Das Fleisch der Orang-Utans wird getrocknet und exportiert, weil es als Aphrodisiakum gilt.« Ein böser Blick zu Andreas. »Ich fliege jeden Urlaub dorthin und helfe den Babys, deren Mütter ermordet wurden, in einem Retreat aufzuwachsen, bis sie groß genug sind, um allein im Dschungel zu überleben.«
»Was bekommst du für den Job?« erkundigte sich Andreas.
»Nichts. Ich darf sogar Geld mitbringen. Flug, Unterkunft und Verpflegung bezahle ich aus eigener Tasche. Das Projekt trägt sich durch die Spenden freiwilliger Helfer aus der ganzen Welt.«
»Moment!« Andreas wollte sichergehen, dass er sich nicht verhört hatte. »Statt es auf Mallorca mal richtig krachen zu lassen, fliegst du auf eigene Kosten nach Borneo …«
»Kalimantan!«
»Kalimantan.« Man konnte spüren, wie sehr es Andreas widerstrebte, dieses Wort in den Mund zu nehmen, weil ihm die ganze Political Correctness auf die Nerven ging. »Und verballerst deinen Jahresurlaub, um Affenbabys die Brust zu geben?«
Das war als Provokation gedacht, aber Beate strahlte übers ganze Gesicht und erklärte, so habe sie das noch nie gesehen, aber letztlich ginge es genau darum, die Amme dieser armen Waisen zu sein.
Wir Männer schauten uns an, aber keiner traute sich zu sagen, was jedem durch den Kopf ging: Was stimmte nicht mit dieser Frau, die eigentlich ganz vernünftig aussah? Warum legte sie sich im Urlaub nicht an den Strand, als Krankenschwester hatte sie doch genug mit Leid und Tod zu tun, sondern flog ans Ende der Welt, wohnte in einer verwanzten Hütte, arbeitete 16 Stunden am Tag in glühender Hitze und gab dafür mehr Geld aus als ich für ein Ferienhaus auf Kreta inklusive Dorade bei Jorgos und Wein bis zum Abwinken.
Es war die sachliche Ingrid, die die Frage stellte, die allen hier auf der Zunge lag: »Vor was läufst du eigentlich weg?«
»Ach, so ist das!« ereiferte sich Beate. »Wenn man versucht, die Welt zu einem menschlicheren Ort zu machen, anstatt nur an die Karriere zu denken, kann irgendwas mit einem nicht stimmen?!«
»Sorry«, lenkte Ingrid ein, »ich dachte nur …«
»Was denn?!«
»Na, ja …« Ingrid machte eine ratlose Geste, »dass wir hier sind, um über unsere Probleme zu sprechen. Warum sagst du denn nicht auch mal was, Thomas?!«
Alle Blicke richteten sich auf mich. Aber was sollte ich sagen? Ich dachte gerade über eine Exit-Strategie nach, wie ich mich elegant verabschieden könnte aus dieser trostlosen Runde. Zur zweiten Halbzeit würde ich es noch schaffen.
Mich rettete die Putzfrau, die ihren Kopf zur Tür hereinsteckte und mit den Schlüsseln klimperte. Wir vereinbarten, uns jede Woche zweimal zu treffen, und zwar reihum bei den Mitgliedern unserer Gruppe zuhause. Außerdem schlug Beate, die wegen ihrer ehrenamtlichen Arbeit Erfahrung mit Gruppen hatte, ein paar Regeln vor:
Nichts dringt nach außen!
Wir googeln uns nicht gegenseitig!
Kein Kontakt zwischen den Treffen!
Handys aus!
Schweigend fuhren wir mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, wo wir verlegen vor dem Instituts-Eingang herumstanden, bis Susanne die Initiative ergriff und sich von allen mit einem Wangenkuss verabschiedete. Trotzdem machte niemand Anstalten zu gehen.
»Kann ich jemanden ein Stück mitnehmen?« fragte ich, um das quälende Treffen zu beenden, und zeigte mit dem Autoschlüssel auf meinen Kombi, der vor dem Institut parkte. »Ich fahre zum Stadion!«
»Du kannst mich in Schwabing absetzen«, erwiderte Andreas und folgte mir mit seinem Trolley, bis uns die Stimme von Beate im Rücken traf. »Kein Kontakt zwischen den Treffen! «
»Scheiß Orang-Utans!« brummte Andreas und ging zum Taxistand.
8
Das Altenheim hat angerufen. Du sollst dich mal sehen lassen, deinem Vater geht’s nicht so gut. Und Pflegemittel fehlen auch, vor allem Gebissreiniger und Rasierschaum.
Die Mail von Martina, die ich nach der Rückkehr vom ersten Treffen der Selbsthilfegruppe auf meinem Laptop fand, ärgerte mich gleich auf mehrfache Weise. Aber schön
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