Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
Vom Netzwerk:
der Reihe nach.
    Warum schrieb mir Martina eine E-Mail, statt anzurufen? Ich hatte die ganze Zeit mein Handy eingeschaltet während des Treffens, da gab es ja noch nicht Regel Nummer vier.
    Nächster Punkt: Warum rief das Altenheim Martina an und nicht mich, um mich zu informieren, dass es meinem Vater schlecht ging. Woher hatte das Altenheim überhaupt Martinas Handynummer? Das Altenheim musste Martina auf ihrem Handy angerufen haben, denn die Nummer ihrer Praxis, in die sie sich vor zwei Wochen geflüchtet hatte, besaßen die Pfleger nicht. Oder war Martina heute Mittag zuhause gewesen, als ich beim Treffen der Anonymen Fortyniners war, und hatte den Anruf des Altenheims entgegengenommen? Aber warum hatte Martina mir dann keinen gelben Klebezettel mit einer Nachricht hinterlassen wie sonst: Bin im Kino. Nudeln zum Aufwärmen sind im Kühlschrank. Außerdem hat das Altenheim angerufen, deinem Vater geht’s nicht so gut .
    Ich suchte unsere Wohnung ab, ob ich Spuren von Martina entdecken könnte. Zuerst checkte ich das Telefon, da musste doch die Nummer des Altenheims gespeichert sein, aber ich wusste nicht, welche Taste ich drücken sollte, um die Liste mit den letzten Anrufern angezeigt zu bekommen. Wie Martina auch immer davon erfahren hatte, ich musste das Altenheim anrufen. Früher tat das Martina. Sie fuhr auch immer zu meinem Vater, wenn er neue Pflegemittel brauchte oder es ihm nicht gut ging. Und manchmal fuhr Martina einfach so ins Altenheim, um meinem Vater eine Freude zu machen, weil er so alt und einsam war.

    Ich war auch alt und einsam. Warum besuchte Martina mich nicht oder rief mich wenigstens an, statt diese bescheuerte Mail zu schicken, über die ich mich immer mehr aufregte?
    Deinem Vater geht’s nicht so gut.
    Was für eine Ansage. Wem geht es schon gut? Aber zwischen nicht so gut und richtig schlecht liegt ein himmelweiter Unterschied. Der Unterschied zwischen Schnupfen und Schlaganfall. Warum sagte das Scheiß Altenheim – reflexartig wollte ich schon 5 Euro in einen leeren Kaffeebecher werfen – nicht, was los war?
    Aber nein, sie lassen einen im Unklaren, und das hat einen ganz einfachen Grund: Wer hat schon Lust, ins Altenheim zu fahren, außer Martina? Liegt es daran, dass sie keinen Vater hat? Natürlich hatte sie einen Vater, aber der war gestorben, als Martina noch ganz klein war. Ich kann verstehen, wie das ist, wenn man keinen Vater hat. Aber wenn man so einen Vater hat wie ich, findet man das Schicksal von Martina gar nicht so schrecklich. Als kleiner Junge hatte ich immer Angst, mein Vater könnte sterben. Das sei der unbewusste Tötungswunsch, klärte mich Martina später auf, die das wissen muss. Ödipus und so weiter. Wie auch immer – damals konnte ich den Gedanken, dass mein Vater eines Tages sterben würde, nicht ertragen. Heute wäre ich manchmal froh, wenn es endlich so weit wäre. Okay, ich weiß, so etwas sagt man nicht. Man denkt es nicht einmal. Aber wenn ich im Altenheim sehe, wie man diese Versteinerungen, zu denen die Alten langsam mutieren, vor dem Fernseher endgelagert hat, in dem Gloria von Thurn und Taxis Weihnachtsplätzchen backt, denke ich: Warum erbarmt sich der liebe Gott nicht dieser armen Kreaturen und erlöst sie – nicht nur von Gloria von Thurn und Taxis.
    Auch ich würde erlöst werden. Erlöst von den quälenden Besuchen im Altenheim, wenn wir uns schweigend gegenübersitzen, mein Vater und ich, und ich spüre, wie er in den leeren Gängen seines Gehirns herumrennt, wobei er nicht
mehr der Schnellste ist, und herauszufinden versucht, woher er mein Gesicht kennt. Wer ist dieser fremde Mann, den er noch nie zuvor gesehen hat, der da einfach in sein Zimmer kommt und den Fernseher ausschaltet. So wie früher mein Vater immer ohne anzuklopfen in mein Zimmer kam und meine Stereoanlage ausgeschaltet hat, weil ihm die Urwaldmusik auf die Nerven ging.
    Ihrem Vater geht’s nicht so gut.
    Da niemand gern ins Altenheim geht, außer einer dicken Frau, die sich immer im Foyer mit ihren selbstgebackenen Kuchen ausbreitet, die sie ihrer dementen Mutter aufnötigt, ohne zu merken, dass die alte Dame auf ihr Zimmer möchte, damit die Pflegerin die Windel wechseln kann – ich müsste Martina mal fragen, was bei der Dicken in der Kindheit schief gelaufen ist. Weil also niemand gern ins Altenheim geht, oder lügt, wenn er das Gegenteil behauptet, schickt das Altenheim solch vage Nachrichten.
    Ihrem Vater geht’s nicht so gut.
    Am Ende geht’s nur darum, sich dort

Weitere Kostenlose Bücher