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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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Wenn das wirklich stimmen sollte, dann kann das nichts Gutes sein. Eher so etwas wie: Ich habe mich für den Jungen krummgelegt, und wie dankt er es mir? Indem er mich ins Heim steckt und nie besucht. Dass das alles eine Vorgeschichte hat, eine ziemlich lange Vorgeschichte von Strenge und Liebesentzug, von der Missbilligung meines Berufs und der Verachtung meiner Kultur – geschenkt. Als Kind muss man verstehen und verzeihen. Kleine Frage am Rande: Gemessen an dem, was mir mein tyrannischer Vater alles angetan hat, und zwar ein Leben lang, sind meine drei, vier Treffen mit Dorata eine Lappalie. Trotzdem würde niemand Martina einen Vorwurf machen, wenn sie sich deswegen von mir trennt und 26 glückliche Jahre in die Tonne tritt. Aber mach das mal mit deinem alten Vater. Wird da nicht mit zweierlei Maß gemessen?

    Die Heimleiterin eskortierte mich an einen freien Platz und drückte mir einen Teller mit einem Stück selbstgebackenem Apfelkuchen in die Hand. Ganz nebenbei: Es gibt nirgendwo besseren Kuchen als im Altenheim, denn das ganze schlechte Gewissen, das hier alle haben, weil wir unsere alten Eltern abschieben, statt uns selbst um sie zu kümmern, fließt als ein Übermaß an Butter und Backpulver in die Kuchen ein.
    Okay, das hier waren nicht die Kammerspiele, beruhigte ich mich, während Peter & Petra singend durch die Reihen gingen. Das war das letzte Gefecht. Aber nun begannen Peter & Petra, sich die Rüstigsten der Senioren herauszugreifen und mit ihnen Walzer zu tanzen. Ich vertiefte mich in den Apfelkuchen auf meinem Pappteller, wobei da gar kein Apfelkuchen mehr war, der schmeckte einfach zu gut.
    Wien, Wien, nur du allein, sollst die Stadt meiner Träume sein …
    Während ich meinen Blick gesenkt hielt, um nicht das festgeschraubte Lächeln des Gesangsduos auf mich zu ziehen, ging Petra vor mir in die Knie. Ein Dirndl samt dazugehörigem Dekolleté schob sich in meinen starr auf den Boden gerichteten Blick, eine eiserne Hand streckte sich nach meinem Arm aus und führte mich einer älteren Dame zu, die mich mit einem Lächeln erwartete, das mich an die Sex-Oma im Fernsehen erinnerte.
    Auch wenn es nicht für meine Reife spricht: Ich wollte nicht mit diesem alten Körper in Berührung kommen. Aber wie tanzt man mit einer Frau Walzer, ohne sie anzufassen?
    Noch ein Geständnis, da ich gerade dabei bin, mich komplett auszuziehen: Bevor ich meinem Vater die Hand gebe, benutze ich das Desinfektionsmittel, das freundlicherweise neben dem Eingang zu seinem Zimmer an der Wand hängt. Und am Ende meines Besuches, der nie länger als 15 Minuten dauert, benutze ich es wieder. Nur gab es hier kein Desinfektionsmittel und auch keine Gummihandschuhe. Die alte Dame stand vor mir und erwartete, dass ich die Führung übernahm. So hatte ich ein doppeltes Problem: Ich wollte
nicht mit diesem alten Körper in Kontakt kommen, außerdem kann ich keinen Walzer tanzen.
    In diesem Moment größter Verlegenheit schob mich eine Hand voller Altersflecken beiseite. Wow! dachte ich, während ich beschämt und beeindruckt zugleich meinem Vater zuschaute, wie er ein Lächeln auf das faltige Gesicht seiner Tanzpartnerin zauberte, dass man eine Vorstellung bekam, wie sie als junges Mädchen ausgesehen haben musste. Wenn man meinen Vater fragen würde, wie der Name des Landes lautet, in dem wir leben – er könnte es nicht sagen. Aber im Gegensatz zu seinem Sohn wusste er, wie man Wiener Walzer tanzt, wobei er nicht unelegant, jedenfalls für einen Mann mit zwei künstlichen Hüftgelenken, die Führung übernahm. Eins, zwei, drei … eins, zwei, drei … Wange an Wange schwebte mein Vater mit seiner Dame an mir vorbei. Die anderen Tanzpaare hatten längst aufgegeben. Staunend standen sie am Rand der Tanzfläche und applaudierten diesem Paar, das sich über die Schwerkraft des Alters hinwegsetzte. Mein Vater wird nächstes Jahr 80, trotzdem ließ er mich in diesem Moment ziemlich alt aussehen, während er mir gerade den Arsch rettete.
    Dann machten Peter & Petra eine Pause, ich setzte mich zu meinem Vater an einen der Biergartentische, und wir taten das, was wir bei meinen Besuchen immer tun – wir schwiegen uns an. Wobei mein Vater nur mit mir nicht redete. Immer wieder kam Pflegepersonal vorbei, meist junge Frauen, die meinem Vater über die faltigen Wangen strichen und ihn so überschwänglich begrüßten, wie sie mich ignorierten.
    Das ist eine weitere interessante Beobachtung, die ich im Altenheim gemacht habe: Das Personal tut

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