Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
immer so, als wären wir Angehörigen nicht anwesend – bis auf die dicke Frau. Die hätten sie zwar auch gerne ignoriert, aber das ging nicht, nicht nur, weil sie einfach viel zu dick war, sondern weil sie diesen Himalaya aus Apfelkuchen gebacken hatte. Das Pflegepersonal stand zu uns, den Kindern dieser Alten, in Konkurrenz. Sie hatten das Gefühl, die besseren Kinder zu sein.
Und wenn sie sich jetzt wie eine Schlange um meinen Vater herumwickelten und ihm Komplimente machten, hatte das wenig mit meinem Vater zu tun, sondern war gegen mich gerichtet. Wenn sie sagten, er sähe aus wie George Clooney, und mein Vater sah tatsächlich immer noch gut aus, während ich in den letzten Wochen um Jahre gealtert war, hieß das übersetzt: Ihr Sohn kommt ja verdammt selten zu Besuch. Wenn sie sagten, mein Vater sei ein »echter Charmeur«, bedeutete das, dass ich ein ziemlicher Stinkstiefel war. Aber warum ist das wohl so?
Natürlich gibt es dafür Gründe, die ich gern beim Blitzlicht meiner Selbsthilfegruppe erklären würde. Ich glaube, dass mein Vater enttäuscht war, weil ich nicht wie andere Jungs vom Zehn-Meter-Turm sprang und nachts den Autoschlüssel klaute, um mit seinem Opel Kapitän eine Spritztour zu machen, als ich gerade mal über das Lenkrad gucken konnte. Er hatte sich einen Draufgänger gewünscht und bekam eine Brillenschlange, die am liebsten in ihrem Zimmer über den Büchern hockte, während sich die Gleichaltrigen auf der Straße die Köpfe einschlugen. Er war nie einverstanden mit dem, was ich wollte, schaute auf die Dinge, die ich wirklich konnte, herab, und ignorierte meine Talente. Er, der ständig vor der Glotze hockte, auch schon als meine Mutter noch lebte, hatte ausgerechnet an den Abenden, wenn meine Filme liefen, keine Zeit, Fernsehen zu gucken. Warum? Damit er sein Urteil, dass ich ein Versager bin und das er vermutlich am Tag meiner Geburt über mich gefällt hatte, nicht revidieren musste?
Das ist natürlich nicht der Boden, auf dem Vertrauen und Zuneigung wachsen. So entschlossen, wie ich mit 18 aus der Kirche austrat, hätte ich gerne auch meinem Elternhaus den Rücken gekehrt. Aber sag mal deiner Mutter, dass du keinen Bock mehr auf Zuhause hast. Wobei ich mit meiner Mutter keine Probleme hatte. Sie war zwar mit meinem Leben, das mehr Zufallsprodukt als Plan ist, auch nicht einverstanden, aber ihre Liebe war größer als ihre Enttäuschung. Bei meinem
Vater war es genau umgekehrt. Doch meine Mutter gab es nicht ohne meinen Vater, sie blieben zusammen bis ans Ende ihrer Tage, auch wenn mein Vater in seiner Praxis nichts anbrennen ließ bei den Arzthelferinnen.
Vermutlich ist es herzlos, aber ich hatte immer gehofft, dass mein Vater vor meiner Mutter sterben würde. Das hätte den Vorteil gehabt, dass meine Mutter sich Zeit ihres Lebens um meinen Vater gekümmert hätte. Später, wenn sie Witwe geworden wäre, hätte ich kein Problem gehabt, sie regelmäßig zu besuchen, nicht nur wenn die Pflegemittel ausgegangen wären. Ich hätte sogar auf dem Sommerfest im Altenheim mit meiner Mutter Walzer getanzt.
Stellten Nina und David auch solche Berechnungen an? Hofften sie insgeheim, dass ich vor Martina das Zeitliche segnete, damit sie nicht mit mir verbittertem, alten Mann allein unterm Weihnachtsbaum sitzen müssen?
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»Prägend für das Jahr 1961 ist der Bau der Berliner Mauer, die die deutsche Teilung endgültig zementiert. Währenddessen verkündet der frisch gewählte US-Präsident John F. Kennedy seine Politik der New Frontier , darunter die Beendigung der Rassentrennung in den USA. Mit dem Scheitern der Invasion in der Schweinebucht muss er jedoch gleich zu Beginn eine außenpolitische Niederlage hinnehmen. Juri Gagarin überwindet eine ganz andere Grenze und wird an Bord von Wostok 1 zum ersten Menschen im Weltraum.«
Wenn man bei Google »1961« als Suchbegriff eingibt, ist der erste Treffer dieser Artikel in Wikipedia.
Ich saß in der Uni-Bibliothek und recherchierte für mein Blitzlicht, das ich am Abend beim zweiten Treffen unserer Selbsthilfegruppe halten würde. Hintergründe und Fakten über unser Geburtsjahr: Höhe des Bruttosozialprodukts, Sitzverteilung im Bundestag, Dauer des Fernsehprogramms. Inzwischen stapelten sich auf meinem Tisch Bildbände und Magazine aus einer Zeit, als Polizisten noch Helme trugen, Jugendliche »Halbstarke« genannt wurden, Nana Mouskouri mit Weiße Rosen aus Athen fünf Wochen lang auf Platz Eins der deutschen Hitparade stand und der
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