Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Krieg nicht wirklich zu Ende war. Man hatte ihn im Kühlschrank auf Eis gelegt, um ihn jederzeit wieder auftauen zu können.
Als meine Mutter mit mir in den Wehen lag, begannen am 13. August 1961 Volkspolizisten der DDR mit dem Bau der Berliner Mauer. Die Welt stand am Abgrund. Wie würde die USA auf diese Provokation reagieren? Mit einem Atomschlag? Während ich ein Vierteljahrhundert später meiner ungeborenen Tochter Neil Young vorspielte, indem ich meine Kopfhörer an Martinas schwangeren Bauch hielt, erreichten mich im Uterus meiner Mutter die in Moskau vorgefertigten Sprachhülsen des SED-Vorsitzenden, der den Mauerbau damit rechtfertigte, dass man gegen die Agitation des Westens einen »antifaschistischen Schutzwall« errichten müsse.
Erklärt diese tägliche Ration »German Angst«, die ich in diesem krisengeschüttelten Jahr 1961 mit der Muttermilch aufgesogen habe, meinen Pessimismus? Nicht nur was die Unausrottbarkeit des Kapitalismus angeht, sondern mein grundsätzliches Gefühl, dass wir mit unserem Planeten auf ein schwarzes Loch zurasen?
Ob die anderen aus der Selbsthilfegruppe auch solche Probleme hatten? Andreas sicher nicht, der wählte bestimmt dieselbe Partei wie Holger. Ingrid auch nicht. Du kannst dich als Linker in einer Filmhochschule verstecken, weil die Öffentlichkeit nichts anderes erwartet, als dass sich dort Spinner herumtreiben. Aber du kannst nicht wie Ingrid die Münchner Messe leiten und dich auf der Jahreshauptversammlung als Globalisierungsgegnerin outen, die sich weigert, Geschäfte mit China zu machen wegen Verstößen gegen die Menschenrechte. Vielleicht würde ich deshalb mein Blitzlicht mit der interessanten Fragestellung eröffnen, was letztlich unsere Generation geprägt hat: Chruschtschow oder die Chromosomen?
Michael kam als Erster. Er sei ein bisschen zu früh, entschuldigte er sich, weil er in der Gegend zu tun hatte. Er könnte aber auch auf der Straße warten, dann würde er noch eine rauchen. Ich bat ihn zu bleiben, er könnte mir helfen, die Sessel im Wohnzimmer so zu verrücken, dass wir alle im Kreis sitzen würden.
Michael hatte einen schwarzen Gitarrenkoffer dabei, weil er nach unserem Treffen mit seiner Band probte. Während ich Bierflaschen und Schalen mit Erdnüssen auf den Couchtisch stellte, ging Michael zu dem großen Bücherregal, das eine ganze Wand unseres Wohnzimmers einnimmt, hockte sich vor das unterste Fach, wo meine alten LPs stehen, und zog die erstbeste heraus.
»Die habe ich eine Zeit lang rauf und runter gespielt.« Mit einem verklärten Lächeln machte Michael den Reißverschluss von Sticky Fingers auf und wieder zu. »Das waren
noch Cover!« Andächtig wog er das von Andy Warhol gestaltete Album in der Hand.
»Kannst du geliehen haben, ich besitze keinen Plattenspieler mehr. Mein Sohn hat bei seinem Auszug meine alte Braun 308 Stereo-Anlage mitgenommen.«
»Du hattest auch diese schwarze Kiste mit dem Deckel aus Plexiglas?«
»Dafür habe ich ein Jahr lang Zeitungen ausgetragen.«
Wir beide lächelten wie Kriegsveteranen, die eine legendäre Schlacht überlebt hatten, in der sie an vorderster Front kämpften. Braun 308 – das stand für endlose Abende in meinem Zimmer: Wir lagen auf dem Klappbett, meine erste Freundin und ich, und lauschten, wie die Nadel den Sound aus dem schwarzen Vinyl kratzte, während eine aufglimmende Zigarette unsere Gesichter beleuchtete. Wir waren so jung, und unsere Pläne reichten nicht weiter als bis zu dem Moment, wenn einer von uns aufstehen und die Platte umdrehen würde.
»Was machst du für Musik mit deiner Band?« Vorsichtig hob ich den Gitarrenkoffer hoch und wog ihn in der Hand.
»Heavy Metal.«
Vor Schreck ließ ich fast den Koffer fallen. Wenn es etwas gibt, das ich noch mehr hasse als die Bayern, dann ist es Heavy Metal.
»Ihr spielt Smoke on the water und so’n …« Ich konnte mich gerade noch bremsen, Michael war mein Gast.
»Genau«, erklärte Michael ungerührt, »wir spielen Smoke on the water und so’n Scheiß. Wobei das eigentlich Hard Rock ist.«
Michael nahm mir den Koffer ab, ließ die Scharniere aufschnappen, holte eine schwarze E-Gitarre heraus, ging damit zu meiner Stereoanlage und schloss die Gitarre an.
»Worauf stehst du denn so?«
»Die erste LP, die ich mir gekauft habe, war Desire .«
»Bob Dylan«, Michael setzte sich mit seiner Gitarre auf den Hocker unseres Charles-Eames-Lounge-Chairs. »Weißt
du eigentlich, dass der erste Rap-Song Subterranean Homesick
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