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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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Statement halten würde.
    Martina nennt das Anamnese , wenn sie zu Beginn einer
Therapie die neuen Klienten zu ihrer Lebensgeschichte befragt, um einen Eindruck zu gewinnen, wen sie vor sich hat. Wobei es die Leute nicht immer so genau nehmen mit der Wahrheit. Nicht, dass sie bewusst lügen, aber mit der Erinnerung ist das so eine Sache: Das Gedächtnis ist dynamisch. Eine Geschichte, die wir erlebt haben, verändert sich mit jedem Erzählen, abhängig davon, wem wir sie erzählen, wobei eine erfahrene Therapeutin wie Martina wesentlich mehr über einen Menschen erfährt durch das, was er verschweigt, als durch das, was er preisgibt.
    Ich fand das immer total interessant, aber da war ich noch nicht Mitglied einer Selbsthilfegruppe. Sicher hatten einige von denen auch die einschlägigen Bücher zum Thema Erinnerung gelesen, Beate bestimmt, Ingrid vielleicht auch. Sie würden sofort spüren, dass etwas mit mir nicht stimmte, wenn ich am Montagabend erzählen würde, dass ich alles noch mal genauso machen würde in meinem Leben. Wobei es völlig müßig ist, darüber zu spekulieren. Man bekommt diese zweite Chance nicht, und vielleicht ist das gut so. Denn jetzt konnte ich mich herausreden : Sorry, aber ich mache das alles zum ersten Mal: Heiraten, Kinder kriegen, mir einen Beruf aussuchen. Wenn man noch einmal neu anfangen dürfte mit seinem Leben, dann würden diese ganzen Ausreden nicht mehr zählen.

9
    Im Prater blüh’ n wieder die Bäume. In Sievering grünt schon der Wein. Da kommen die seligen Träume. Es muss wieder Frühlingszeit sein.
     
    Im Altenheim war Sommerfest. Gut, dachte ich, dann brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich schnell die Pflegemittel abgebe und mich wieder verdrücke. Ich störe hier nur, sollen die alten Leutchen doch ihren Spaß haben. Der Nachmittag stand unter dem Motto Wien, nur du allein , als ob die Lebensuhr dieser Alten angehalten worden war, als Marika Rökk noch ihre Beine schwang.
    Würde uns das später auch so gehen? Würden wir an Tischen mit lustigen Gartenzwergen sitzen, die die Preisliste für die Kuchen – die alle Angehörigen außer mir gebacken hatten – hochhalten, und rhythmisch einem Mann mit Irokesenschnitt zuklatschen, der »All in all it’s just another brick in the wall« singt? So wie die Alten hier einem platinblonden Paar im Trachtenlook applaudierten, das denselben Friseur zu haben schien und mit der Frage »Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?« Begeisterungsstürme auslöste.
    Sollen sie ruhig blühen, die Bäume im Prater, dachte ich. Ich habe kein Problem mit Schlagern, solange ich sie mir nicht anhören muss. Ich finde sogar, dass sie von der Kasse bezahlt werden sollten, als Antidepressiva. Kommt auch noch auf uns zu: Hotel California auf Krankenschein.
    Ich bin inzwischen erwachsen genug, meinem Vater nicht mehr vorzuwerfen, dass er Peter-Alexander-Fan ist, wie ich das früher immer getan habe. Außerdem war dieser bunte Melodienstrauß ein perfekter Vorwand, mich unauffällig zu verabschieden. Aber ich wollte gerade in unseren Kombi steigen, wobei ich keine Idee hatte, was ich mit der geschenkten Zeit anfangen sollte, als mich eine freundliche Frauenstimme im Rücken traf wie ein vergifteter Pfeil.
    »Sie wollen schon wieder gehen, Herr Neumann?!«
    Es war die Heimleiterin, die mich auf dem Kieker hatte,
weil von den ganzen Angehörigen ich bestimmt derjenige war, der sich am wenigsten um seinen Vater kümmerte. Ich bin sicher, die führen eine Strichliste, auf der ich den letzten Platz belege.
    »Bei der Tombola gibt’s tolle Preise. Alle haben etwas gespendet. «
    Nur ich nicht, schon klar. Ich verstand den Subtext.
    »Ich habe die Pflegemittel im Stationszimmer abgegeben«, rechtfertigte ich mich wie ein Schuljunge, der sich vor dem Turnen drückt, und wollte endlich ins Auto steigen, aber die Heimleiterin versperrte mir den Weg.
    »Außerdem …«, jetzt spürte ich eine eiserne Hand – das Pflegepersonal scheint das in der Ausbildung zu lernen, damit sie die Alten einfangen können, wenn die verständlicherweise flüchten wollen. »Außerdem können Sie nicht gehen, ohne Ihrem Vater ›Hallo‹ gesagt zu haben. Er redet so oft von Ihnen.«
    Reden? Mein Vater redet von mir? fragte ich mich ungläubig, während mich die Heimleiterin im Polizeigriff zurückbrachte zu Peter & Petra, die gerade die kleine Bühne verließen, während sie die Schönheit der blauen Donau besangen. Mein Vater redet oft über mich?

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