Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
gar nicht so viel jünger als ich. Anfang Vierzig. Vielleicht hatte sie selbst ein Problem mit dem Älterwerden und bot mir nur deshalb ihren Platz an, um den anderen Fahrgästen zu demonstrieren, dass sie noch nicht alt war.
Früher hätte ich mit Martina über diese Sache geredet, da brauchte ich keine Selbsthilfegruppe. Es war praktisch, eine Psychotherapeutin in der Familie zu haben. Allerdings konnte ich mir jetzt nichts dafür kaufen, denn es herrschte Funkstille. Martina legte auf, wenn ich mich am Telefon meldete. Sie antwortete nicht auf meine Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter und auch nicht auf die ganzen Mails, in
denen ich ihr schrieb, dass mir das alles sehr leid tue und ich sie vermissen würde … Stopp! Es gab eine Mail von Martina. Sie erreichte mich wenige Stunden, nachdem sie in das Treffen meiner Selbsthilfegruppe geplatzt war und ich sie um ein klärendes Gespräch gebeten hatte. Worauf Martina unter dem Verzicht auch nur der bescheidensten Höflichkeitsformeln geantwortet hatte, ich sollte ihr weitere Peinlichkeiten ersparen.
Okay, wenn Martina es so wollte, dass ich mich vor ihr zum Affen machte, dann würde ich es halt tun. Sie hatte vermutlich zu viele Romantic Comedies gesehen, wo in der Climax, wenn der Mann – in Romantic Comedies ist es immer der Mann, soviel zur Theorie des Zurücksteckens von Ingrid – ohne Rücksicht auf seinen maßgeschneiderten Anzug und die handgenähten Schuhe aus Pferdeleder im Regen durch den Central Park läuft, in das teuerste Restaurant von Manhattan stürzt, wo die Angebetete mit ihren Kollegen beim Business-Lunch sitzt, vor ihr auf die Knie fällt und erklärt, wie er nur so blind sein konnte, nicht zu sehen, dass sie die Eine ist, mit der er alt werden will … Wenn die Geigen wimmerten, die Kamera rotierte und sich die Liebenden nach einem letzten Zögern endlich in die Arme sanken, dann vergoss Martina im Kino heiße Tränen.
Es war nicht der Central Park, nur der Englische Garten, und es regnete auch nicht, während ich zu Martinas Praxis ging und mir ein paar clevere Lines ausdachte, die ich bei meinem Kniefall abspulen könnte: »Sorry, Schatz!« Stopp, nicht gut, gar nicht gut. Das Wort Schatz mochte Martina schon nicht, als bei uns noch die Sonne schien, weil es sie erstens auf einen Gegenstand reduziert und zweitens damit intendiert wird, dass sie mir gehört. »Sorry, Martina …« Schon besser, aber war sorry nicht zu devot? Ich war bereit, mich vor ihr in den Staub zu werfen, aber ich sollte mich nicht kleiner machen, als ich war. »Ich war gerade in der Gegend und hatte Lust, dich auf einen Kaffee einzuladen. Aber da du mit mir
nicht mehr weggehst, du weißt schon wegen … habe ich dir einen Latte Macchiato mitgebracht. Darf ich reinkommen, oder hast du gerade einen Klienten?«
Nein, Martina hätte keinen Klienten. Es war ihre telefonische Sprechstunde, das wusste ich ganz genau, weil ich um diese Zeit oft vorbeischaute und ihr einen Coffee-to-go brachte. Dann erledigte sie an ihrem Schreitisch Büroarbeit, während ich auf der Therapiecouch saß und den neuesten Tratsch aus unserem Institut erzählte.
»Was willst du?!« Martina wollte sofort wieder die Tür schließen, aber ich schob einen Fuß dazwischen und hielt den Kaffeebecher hoch.
»Ich wollte dir einen Kaffee vorbeibringen.«
»Ich trinke keinen Kaffee mehr!« Martina verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Und jetzt? Meine ganze Abrüstungsstrategie hatte ich um diesen Kaffee herum aufgebaut. »Ich war gerade in der Gegend und dachte …«
»Was?« stoppte Martina mich.
»Nun ja, immerhin sind wir noch verheiratet, ähm …« Wie erbärmlich das alles war. Aber dass Martina keinen Kaffee mehr trank, hatte mich aus dem Konzept gebracht.
»Du bestehst auf Vertragserfüllung?« Martina gab überraschend die Tür frei. »Zieh dich schon mal aus und leg dich auf die Couch, ich muss noch schnell eine Mail schreiben.«
Insgeheim hatte ich von so einer Nummer auf der Therapiecouch geträumt, auch wenn Sigmund Freud sich im Grab umgedreht hätte. Aber während ich Martina in ihre Praxis folgte, wusste ich, dass wir von Sex so weit entfernt waren wie Andreas von einem Date mit Susanne.
»Was ist?« Martina, die sich wieder an den Schreibtisch gesetzt hatte, realisierte, dass ich mich umschaute. Es war kaum etwas davon zu spüren, dass sie hier seit drei Wochen wohnte. Klar, dass sie nicht ihr Bettzeug auf der Therapiecouch liegen ließ. Aber wo war es dann? In den
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