Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
unter einer Brücke geschlafen, habe ich eine Menge Geld bezahlt. Ich trage Turnschuhe, einen Dreitagebart und lasse meine Schlüssel an einem Band, auf dem der Name eines taiwanesischen Filmfestivals steht, locker aus der Hose hängen. Wie konnte man mir da ansehen, dass ich in einer Woche 50 werden würde?
Ich begriff erst nicht, was die Frau von mir wollte, die zwischen Goetheplatz und Sendlinger Tor von ihrem Sitz aufstand und darauf zeigte. Hatte sie eine Kontaktlinse verloren, und ich sollte ihr beim Suchen helfen? Oder ging es um das Loch, das irgendwelche Vandalen in den Sitz gebrannt hatten? Ich lächelte freundlich zurück und hielt mich weiter an der speckigen Stange fest, um nicht umgeworfen zu werden, während sich die U-Bahn kreischend in die Kurve legte.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Warum?«
»Na, ich dachte …« Die Frau lächelte verlegen.
»Was dachten Sie?« gab ich zurück, während ich begriff, was hinter dem freundlichen Angebot steckte. »Dass ich gleich ins Koma falle?!«
Das kam so heftig heraus, dass mich der halbe Waggon anstarrte.
»Hab’s ja nur gut gemeint«, erklärte die Frau und stieg am Sendlinger Tor aus.
Nun war es also passiert. Man hatte mir zum ersten Mal einen Sitzplatz in der U-Bahn angeboten. Resigniert ließ ich mich auf den angewärmten Platz fallen, um den Schock zu
verarbeiten. Okay, jüngere Fahrgäste sollen älteren Fahrgästen unaufgefordert ihren Sitzplatz zur Verfügung stellen. Allerdings nur bei »Bedarf«. Wirkte ich bedürftig? Irgendein Signal der Schwäche musste ich ausgesandt haben. Auf den tausenden Fahrten mit der Münchner U-Bahn war noch nie jemand für mich aufgestanden. Warum ausgerechnet heute? Was hatte sich verändert?
Um das herauszufinden, stieg ich am Marienplatz aus, obwohl ich eigentlich noch weiter fahren musste, ging ins erstbeste Kaufhaus und begab mich unter dem Vorwand, eine Jeans anzuprobieren, in eine Umkleidekabine, um dort im Spiegel zu checken, was mit mir los war.
»Kommst du klar?«
Ich begriff zuerst nicht, wo die Stimme der Verkäuferin herkam, bis ich ihren blonden Schopf unter dem Eingang der Umkleidekabine entdeckte, der aus zwei Schwingtüren bestand wie in einem Saloon, sodass meine käsigen Beine zu sehen waren.
»Vielleicht solltest du besser die ›Easy fit‹ probieren. Ich hol dir die passende Größe.«
Nein, ich kam nicht klar. Nicht mit der Jeans, nicht mit meinem Alter und auch nicht damit, dass mich die Verkäuferin duzte.
»Warum duzen Sie mich?« fragte ich die Verkäuferin, als diese mit einem Stapel Jeans zurückkam.
»Bitte?«
»Kennen wir uns irgendwoher? Oder habe ich Ihnen das Du angeboten?«
»Sorry!« Die Verkäuferin schaute mich an wie eine Lava-Lampe. »Das ist unser Konzept. Hier wird jeder geduzt, die Kollegen, die Kunden, sogar der Chef …«
»Aber ich nicht, klar?!«
Die Verkäuferin hob entschuldigend ihre Hände, während die Kolleginnen auf uns aufmerksam wurden.
Ich drückte der Verkäuferin die Jeans in die Hand und flüchtete. Wenn ich in meinem Zustand eines nicht wollte,
dann war es, Aufsehen zu erregen. Erst recht nicht in Zusammenhang mit meinem Alter. Es hatte doch jahrelang perfekt geklappt, dass mein Alter keine Rolle spielte. Aber da war ich in den bequemen Vierzigern, wo ich weder über die Vergangenheit nachdachte noch über die Zukunft. Damals wäre niemand in der Jeans-Abteilung eines Kaufhauses auf die Idee gekommen, mich zu duzen. Also hatte es doch etwas mit meinem 50. Geburtstag zu tun. Und ich verdankte es einem Anflug von Mitleid, dass die nette Verkäuferin mir altem Sack eine Freude machen wollte, indem sie so tat, als seien wir Kumpels.
Ich beschloss, beim nächsten Treffen mit meiner Selbsthilfegruppe darüber zu reden, ob die auch solche Erfahrungen machten. Allerdings fuhr Ingrid bestimmt nie U-Bahn, schließlich hatte sie einen Wagen mit Fahrer. Susanne wurde sicher schon oft ein Platz angeboten von Männern, aber das war nicht ihrem Alter, sondern ihrer Schönheit geschuldet. Andreas fuhr nur Taxi. Er hatte sich beim ersten Treffen damit gebrüstet, dass er keine Zeit hätte für den »Volkshochschulkurs«, den man besuchen muss, um die Handhabung der Streifenkarte der Münchner Verkehrsbetriebe zu erlernen. Und Michaels Welt beschränkte sich auf das Dreieck zwischen Leopoldstraße, Herzogstraße und Türkenstraße, sein »Wohnzimmer«, das er nur im Notfall verließ.
Andererseits: Die Frau, die mir ihren Platz angeboten hatte, war
Weitere Kostenlose Bücher