Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
wichtig, dass es nicht auch morgen, in einer Woche oder vielleicht nie erledigt werden konnte. Hier, wo nicht mehr der Mensch das Tempo bestimmte, erschien mir das Leben, wie es eigentlich sein sollte: wohltuend und entspannend, ein rhythmisches Gleichmaß. Worte, die sich hier allesamt aus einer Art von Stille, Licht, Himmel, Wind, Sand und Meer bildeten.
Ich spürte reinste Zufriedenheit, die von innen kam.
Übereinstimmung mit mir selbst.
Ein Gefühl seelischer Sattheit.
Sehnsuchtserfüllung?
Glück?
Oder wie sollte ich diese verwirrenden Gedanken und Gefühle nennen?
Extreme Reisen
Wenn auf den Meeren und in den Wüsten der Welt die Natur im Gewand des Unberechenbaren über einen hereinbricht, wird das Unterwegssein zum extremen Abenteuer. Im Erleben ungezähmter Natur verschieben sich die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit, wobei Ausdauer, Willenskraft und Selbsteinschätzung gefordert sind, denn Zähigkeit und Sportlichkeit genügen nicht. Nur wer das Wilde und Unberechenbare akzeptiert, wächst über sich hinaus und entdeckt das Verhältnis zu sich selbst.
343 Tage auf See
Wilfried Erdmann
Die einen vergraben sich, die anderen sind unterwegs.
Bruce Chatwin
Dienstag, 15. August 2000 – 2. Tag
Kein Wind und tiefe Wolken. Schwül ist es. Drückend. Der zähe Anfang einer langen Reise. Wie lang? Wer weiß. Vier Menschen vor mir haben das geschafft, was ich jetzt versuche: eine Nonstop-Weltumseglung gegen die vorherrschenden Windrichtungen. Der Engländer Chay Blyth war der Erste. Er hat mit seiner achtzehn Meter langen Ketsch british steel 292 Tage gebraucht. Wie lange wird meine Fahrt dauern? Mein Schiff kathena nui ist acht Meter kürzer. Mein Proviant reicht für 315 Tage.
Die drei großen Kaps der Erde habe ich vor mir. Kap Hoorn an der Südspitze Amerikas, Kap Leeuwin am südwestlichen Ende Australiens, Kap der Guten Hoffnung am Südende Afrikas. Und zwischen ihnen der gefürchtete südpolare Ozean.
Doch erst einmal liegt voraus die Deutsche Bucht, unbewegt und grau wie Mehlsuppe. Keine Brise. Kein Mensch segelt, alle fahren unter Maschine. Mein Schiff hat keine Maschine. Mit schlaffen Segeln trägt der Tidenstrom mein nur zehneinhalb Meter langes Aluminiumschiff nach Westen.
Hinter mir liegt Cuxhaven. Ein Abschied, der noch immer im Gesicht reißt. Die letzte Umarmung meiner Frau, der letzte Händedruck meines Sohnes. Die letzten Fragen der Reporter: »Warum machen Sie das?«
Besuch aus der Luft: KATHENA NUI südlich von Neuseeland.
Ja, warum? Jahrelang habe ich davon geträumt, diese größte seglerische Herausforderung zu bestehen. Jetzt, da ich sie begonnen habe, fühle ich mich kraft- und mutlos. Zehneinhalb Monate Alleinsein liegen vor mir. Mindestens. Fast ein Jahr ohne menschliche Stimmen, Berührungen, Teilnahme. »Könnt ihr den Kelch trinken?« Diese Frage von Jesus an seine Jünger aus dem Matthäusevangelium geht mir nicht aus dem Kopf.
So viele Abschiede habe ich hinter mir, oft vor langen Reisen: vier Aufbrüche zu Weltumseglungen, die letzte 1984/85, auch schon nonstop, aber »richtig herum«, mit dem Wind. Und jedes Mal fällt es mir unendlich schwer, wenn die Menschen, die ich liebe, an Land zurückbleiben. Die Seele hängt auf halbmast.
Obendrein ist mir schlecht. Kotzelend. Auch zwei Aspirin helfen nicht. Ich weiß, dass ich nachts höllisch aufpassen muss, weil ich durch ein gefährliches und dicht befahrenes Seerevier, die Deutsche Bucht, segle: Dort gibt jede Menge Schiffe, Tonnen, Leuchtfeuer, Stromversetzungen.
Endlich, zur Nacht hin, kommt Wind auf, aber leider aus der falschen Richtung. Direkt von vorn. Kreuzen muss ich also auch noch. Die Fahrt beginnt schwierig – wie alle Vorhaben, die sich lohnen.
23. August – 10. Tag
Stahlbaues Wasser, lange Wellen, stetiger Wind. Ich habe Nordsee und Englischen Kanal geschafft, bin im offenen Atlantik und feiere meine ozeanische Wiedergeburt mit einer Flasche Bier. Göttlich! Mein Blick wandert über das Meer. Diese Weite, dieses tiefe, reine Blau mit kleinen weißen, anlaufenden Kämmen. Einfach traumhaftes Segeln gen Süden an den Kanarischen Inseln vorbei bis südlich der Kapverden. Tage, wie sie nicht klarer sein können. Mit sechs bis sieben Knoten zerteilt der Bug das Blau, lässt es weiß schäumen. Warum wird eigentlich aus Blau Weiß?
Es ist schön, an Deck zu sitzen und das gleichmäßige Wiegen des Schiffes in den Wellen zu spüren. Tage zum Küssen: mild, weich, gewinnend. Die See kann
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