Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
bin ich?
Im Spital.
Wieso?, fragt Agnes.
Wissen Sie es nicht?, sagt die Frau.
Nein, sagt Agnes.
Sie wollten sich umbringen.
Ich? Mich? Das glaube ich nicht, spricht Agnes.
Agnes schweigt.
Was haben Sie gestern mit Karin gemacht?, fragt die Polizistin.
Agnes sagt: Karten gespielt.
Karin ist Agnes’ Tochter, vierzehnjährig, rotes Haar.
Auch Odermatt hatte rotes Haar.
Bei Bäcker Odermatt ging Agnes einst in die Lehre, Agnes wurde Verkäuferin. Odermatt lobte sie. Agnes, neunzehn Jahre alt, zog dann in den Aargau, arbeitete in einem Laden der Migros. Ständig hatte sie Heimweh, sagt die Mutter. Agnes kam ins Dorf zurück. Odermatt schenkte ihr eine Halskette.
P-06: Am Tag nach der Tat verneinte Frau G. noch immer, dass es zwischen ihr und der Tochter Karin zu Tätlichkeiten gekommen sei. Auch verneinte sie, einen Suizidversuch unternommen zu haben, sie hätte gar keinen Grund dazu.
Agnes möchte schlafen.
Psychiater setzen sich an ihr Bett. Einer sagt: Frau G., es ist etwas Schlimmes geschehen. Agnes fragt nicht, was geschehen sei. Wie lange bin ich schon hier?, fragt sie. Warum besucht mein Mann mich nicht, mein Alois?
Alois G., Bodenleger und Chauffeur, war einst der Freund von Agnes’ Schwester. Bis die Schwester den Alois nicht mehr wollte und ihn Agnes überließ. Heirat am 17. Mai 1975. Alois ganz in Weiß, rosa Krawatte. Agnes mit Nelken. Foto vor blühendem Kirschbaum. Bäcker Odermatt schenkte ein lebendes Ferkel. Der schönste Tag im Leben. Hochzeitsreise nach Ascona, Agnes hatte Heimweh, Alois verstand nicht. Agnes wurde Mutter, gebar zwei Söhne, 1977 und 1980. Einmal im Jahr rief Odermatt an, bat Agnes an seinen Brotstand während der Herbstmesse. Agnes ging. Agnes half. Agnes und Alois waren ein schönes Paar. Sie hielten sich oft an den Händen, küssten sich am Morgen, am Mittag, am Abend. Küssten sich, wenn sie mit Trinkgläsern anstießen. Gehört sich so. Alois war im Männerchor, Agnes bei der CVP. Sonntags zwangen sie ihre Söhne zu sich in die Kirchenbank, erlaubten nicht, dass sie saßen, wo die anderen Buben des Dorfes saßen. Die Knaben trugen Uniformen. Als Agnes ihre Tochter Karin gebar, befahl sie der Hebamme, Alois anzurufen und ihm zu sagen, er brauche zur Geburt nicht zu kommen. Alois kam trotzdem, er freute sich, Agnes weinte sehr. Odermatt brachte Blumen. Es war der 20. Juni 1986.
Agnes weiß nichts.
Der Psychiater schreibt: Verdacht auf dissoziative Amnesie (ICD–10 F 44.0) bei noch unklarer Grundkrankheit. Zyprexa ® 2 x 5 mg und Nozinan ® 50 mg, bei Bedarf 5 mg Valium ® .
Agnes schläft in einem weißen Bett. Manchmal öffnet sie ihre großen Augen und schweigt.
Alois erzählt im Dorf, sogar die Küchendecke sei voller Blut gewesen, sogar das Fenster. Wie in einem Schlachthaus. Am Mittwoch ist Beerdigung. Alle Schulklassen sind in der Kirche. Alois und die zwei Söhne in der ersten Bank, Karin im Sarg. Der Blauring spricht Fürbitten, die Oberstufe singt und schlägt Instrumente, der Pfarrer redet von Gottes unerfindlichem Weg. Karin kommt ins Grab ihres Großvaters. Agnes liegt in der Psychiatrie. Alles ist hell, die Hände schmerzen. Sie ist Linkshänderin, sagt die Mutter.
Nach dem Mittagessen habe sie das Geschirr abgewaschen, erzählt Agnes der Polizistin. Agnes redet langsam. Und dann habe ich, glaube ich, Quitten gewaschen. Die hatte ich am Tag zuvor bei meiner Mutter geholt.
Das stimmt, sagt die Mutter, Agnes war sehr anders, sie sprach fast nichts, als sie die Quitten holte, sie war unruhig, rauchte ständig, die Stiefel, die Agnes trug, waren ihr viel zu groß, Agnes hatte Kopfschmerzen und zerzaustes Haar, sie war so ungepflegt, und an ihrem Hals, irgendwie, war ein Loch, eine Vertiefung, Agnes Hals war sehr eingefallen.
Und nach dem Quittenwaschen? Was geschah dann?, fragt die Polizistin.
Ich weiß es nicht, sagt Agnes. Sie ist bleich, sie lächelt nicht, Agnes ist müde. Nächtelang habe ich darüber nachgedacht, ich weiß es nicht, es kommt mir nicht in den Sinn. Ich weiß nicht, woher ich diese Schnitte am Arm habe, die Stiche in der Brust. Es ist mir noch nie passiert, dass ich mich nicht erinnern kann. Agnes wimmert. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich Karin getötet habe. Wir hatten doch keinen Streit, nie hatten wir Streit, nie und nie, wir waren alle sehr glücklich, eine wunderbare Familie, und wenn es etwas zu bereden gegeben hätte, dann hätten wir sicher darüber geredet. Wir waren alle sehr glücklich. Wahrscheinlich hat
Weitere Kostenlose Bücher