Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Gefahr für Leib und Leben aus, sei es für uns selbst oder die Menschen um uns herum. Ich habe niemandem etwas angetan, seit sie mich hergebracht haben. Aber ich bin Emily Koll, deshalb gebührt mir die Ehre, die mittlere Zelle zu bewohnen.
Ich bin die Königin dieses verfluchten Schlosses hier.
»Erin muss ihr Frühstück selber aufessen«, sagte eine Pflegerin, als Naomi ihr den Teller abnehmen wollte.
Noch so eine Magersüchtige wie Lily.
Ich muss das fremde Mädchen wohl angestarrt haben, denn sie richtete sich plötzlich auf.
»Was glotzt du mich so blöd an?«, rief sie. »Ich hab keine Angst vor dir, Crazy Koll.«
»Nein, nur vor Kalorien«, erwiderte ich. Aber es saß, das will ich gar nicht leugnen. Es war schon länger her, dass man mich so genannt hatte. Die
Sun
benutzte den Namen damals besonders gern für mich.
»Emily!«, ermahnte mich die Pflegerin, die sofort zu unserem Tisch kam.
»Was denn? Sie hat angefangen!«
»Sei du die Vernünftigere!«
»Wenn ich vernünftig wäre, wär ich nicht hier!«
Daraufhin mussten alle am Tisch kichern. Sogar das neue Mädchen entspannte sich. Wir schwiegen eine Weile.
»Gibt es einen Ort, an dem ihr glücklich seid?«, fragte Naomi, als die Pflegerin wieder verschwunden war.
»Maladoth«, sagte Reta mit einem sehnsüchtigen Lächeln. »Es ist dort so schön. Der Himmel glüht orangerot, und die Zitadelle ist von einer riesigen Glaskuppel umschlossen, die unter der Zwillingssonne funkelt. Dahinter erstrecken sich bis zum Horizont die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln und ihren tiefroten Grasmatten.«
Wo auch immer ein solcher Ort liegen mochte.
»Ich glaub, sie hat da gerade Gallifrey beschrieben«, flüsterte ich Naomi zu.
Naomi runzelte die Stirn. »Galli-was?«
»Gallifrey. Kennst du das nicht? Die Fernsehserie
Doctor Who
?«
»Hör nicht auf Reta. Sie ist total irre im Kopf.«
»Und wie geht’s dir so mit deiner Schizophrenie?«
»Großartig. Ich brauch nur noch einen Ort, an dem ich glücklich bin. Wo ist deiner?«, erwiderte Naomi.
»Der
Electric Ballroom
«, sagte ich und musterte dabei meine Fingernägel.
»Nein, ich meine einen Ort, an dem man wirklich glücklich ist«, sagte sie, während sie das Eigelb auf ihrem Teller mit einem Stück Brot aufwischte. Wenn dabei mir schon kotzübel wurde, wie musste es dann erst Lily und dem neuen Mädchen ergehen, die bestimmt gleich ohnmächtig umkippen würden? »Wo du hingehen kannst, wenn in deinem Kopf alles woo-woo wird.«
Ich starrte sie an. »Woo-woo? Wirklich, Naomi? Du bist seit sechs Monaten hier, und alles, was dir dazu einfällt, ist woo-woo?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ja, ist so für mich.«
Ich wandte mich Hilfe suchend zu Lily, aber sie zuckte ebenfalls mit den Achseln. »Besser als einfach nur plemplem.«
Ich war perplex. »Darauf läuft es schließlich hinaus? Woo-woo zu sagen, weil sich das besser anhört als plemplem? Und das war’s dann?«
»Na, mit Irresein weißt du wohl besser Bescheid als wir alle«, meinte Naomi mit einem breiten Grinsen.
Ein niedrigerer Geist als ich hätte ihr dafür unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten. Ich dagegen schüttete nur meinen Tee über den Rest ihres Frühstücks. »Oh, wie ungeschickt von mir!«
»Verdammte Scheiße, Emily, was soll das?«, rief sie.
Ich tat so, als wäre ich entsetzt. »Eine Dame sagt nicht ›verdammte Scheiße‹, eine Dame sagt ›Entschuldigung‹.«
»Haben sie dir das in deinem stinkfeinen Internat beigebracht?«
»Das und einen untrüglichen Sinn dafür, wem was zusteht und wem nicht.«
Als der Tee dann über die Tischkante auf ihren Schoß tropfte, belegte sie mich mit einem Schimpfwort, das ich hier nicht wiedergeben werde. Ich prustete los.
Die arme Lily blickte ganz verstört drein. »Ich hab keinen Glücksort! Doktor G scheint aber zu glauben, dass wir einen solchen Ort unbedingt brauchen.«
Eine Pflegerin brachte einen Stapel Papierservietten, den Naomi stöhnend entgegennahm, und warf mir einen Blick zu, der mir klarmachte, dass ich bis auf Weiteres ohne Zigaretten auskommen musste. Dann trottete die Pflegerin wieder davon.
»Aber wo soll ich so einen Glücksort finden?«, fragte Lily. »Vielleicht irgendwo, wo es sicher ist, am besten im Wald?«
»Wälder sind nicht sicher«, erwiderte ich barsch, und ihr kleines Gesicht zog sich zusammen. »Lies mal ein Buch, Lil. Wälder sind voller Vampire und Werwölfe.«
»Sie nimmt dich auf den Arm, Lil«, sagte Naomi, während sie
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