Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Falls überhaupt etwas geschah.«
Sie schaute entsetzt, und ich grinste, weil sie überhaupt nicht merkte, dass ich sie aufzog.
»Aber ich war unglaublich gern dort«, sagte ich, und sofort wirkte Lily wieder munterer. »Es gab dort achttausend Schüler, Lil. Achttausend. In St. Jude’s war es immer so still. Es war alles auf Hochglanz poliert und mit Goldbeschlägen. Im College of North London dagegen herrschte das reinste Chaos. Immer und überall stand dir jemand im Weg, und es war fürchterlich laut. Ein einziges lärmendes Durcheinander aus Handygeklingel, Musik und Stimmen!« Ich riss die Arme hoch. »Es war so lebendig dort! Immer war was los. Du bist um eine Ecke gebogen und über ein küssendes Pärchen gestolpert; du bist um die nächste Ecke gebogen, und zwei Mädchen kreischten sich an. Und es wurde so viel gelacht, Lil, laut gelacht. Kaum bist du irgendwo die Treppen runtergegangen, dann hast du schon eine Explosion von Gelächter gehört, dass alles in dir vibrierte.« Ich hielt einen Moment inne. »In St. Jude’s hat niemand gelacht. Wir kicherten oder glucksten, aber wir haben nie laut gelacht.«
»Vermisst du das College?«, fragte sie, während ich an meiner Zigarette zog.
»Natürlich.«
»Würdest du dorthin zurückwollen?«
Ich dachte kurz darüber nach, und es brach mir fast das Herz.
»Wir können nicht zurück, Lil«, sagte ich mit kaum merklichem Achselzucken.
Ich hätte erwartet, dass sie jetzt in sich zusammenfallen würde, aber sie lächelte nur. »Deshalb darf man auch nichts als selbstverständlich nehmen. Man weiß gar nicht, was man hat, bis man es verliert.«
Sie wirkte so stolz auf sich selbst, als sie das sagte, dass ich zurücklächelte, auch wenn ich ihr nicht zustimmen konnte. Wir wissen alle, was wir haben, ist es nicht so? Man glaubt nur nie, dass man es verlieren könnte.
[zurück]
N aomis Freund kam sie heute nicht besuchen, deshalb war sie auch die Erste bei der Medikamentenausgabe. Den ganzen Tag über hat es mich wie wahnsinnig gejuckt, sie deswegen aufzuziehen, aber gerade als ich den Mund aufmachen wollte, zog Lily eine Zeichnung heraus.
»Was ist das?« Naomi runzelte die Stirn, als Lily das Papier hochhielt.
»Das ist mein Glücksort.« Sie stand aufrecht da und lächelte. »Hab ich in Kunst gezeichnet.«
(Sie sagt das immer so – Kunst –, als wäre es eine Unterrichtsstunde und nicht der Versuch, uns langsam, aber sicher vor Langeweile umzubringen.)
»Da sind Bäume«, sagte sie und deutete auf braune Linien mit grün vollgekritzelten Blasen am oberen Ende. »Und da sind Wiesenblumen und ein plätschernder Bach.«
»Hänschen klein ging allein«, sang ich, doch die beiden beachteten mich nicht.
»Und hier ist ein Baumhaus, in dem du schlafen kannst.«
Naomi blinzelte, als Lily ihr die Zeichnung überreichte. »Für mich?«
»Ja. Du bist immer so traurig. Ich hab mir gedacht, vielleicht willst du sie dir mal ausleihen.«
Ich musste mir wieder mal ins Gedächtnis rufen, dass Lily sich manchmal wie sechzehn verhält. Doktor Gilyard nennt das Regression. Sie sagt, das sei ein Selbstschutzmechanismus. Viele der Mädchen entwickeln das, um sich nicht mit der Tat auseinandersetzen zu müssen, wegen der sie hier gelandet sind. Bei mir verhält es sich gerade umgekehrt. Ich fühle mich manchmal so uralt, als wäre ich eine Greisin, die im Schaukelstuhl sitzt und Geschichten aus ihrer vergeudeten Jugend erzählt.
»Geh ja nicht zu nah an den plätschernden Bach«, warnte ich Naomi mit einem Augenzwinkern.
Aber statt zu lachen, brach sie in Tränen aus.
»Was denn? Was ist denn los?« Ich wandte mich entsetzt zu Lily. »Was hat sie denn? Ist sie im Kopf ganz woo-woo geworden?«
»Sie weint, Emily«, sagte Lily und strich Naomi über die Haare.
»Warum?«
»Weil ich innerlich noch nicht ganz tot bin«, schluchzte Naomi. »Tröste mich!«
Ich versuchte, Naomi die Zeichnung aus der Hand zu nehmen, aber sie wollte sie mir nicht geben. »Lass das, Emily!«, rief sie. »Du sollst dich nicht über den Glücksort lustig machen.«
»Ich will mich nicht darüber lustig machen. Ich will euch etwas zeigen. Hier, schaut mal genau hin!« Ich deutete auf eine Stelle zwischen den Bäumen. »Seht ihr, wer da steht?« Sie beugten sich beide über die Zeichnung. »Jake Gyllenhaal!«
Naomi drückte sich die Zeichnung an die Brust. »Ich möchte jetzt allein damit sein.«
Ich wandte mich zu Lily, um sie zu fragen, ob sie mir ihren Glücksort später
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