Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
auch mal ausleihen würde. Doch sie starrte mit ihren weit aufgerissenen Augen auf den Flur. »Wer ist das denn?«
Naomi und ich drehten uns um. Wir sahen, wie eine der Pflegerinnen ein großes Mädchen mit leuchtend roten Wangen in den Schwesternraum brachte.
»Das ist Cara«, flüsterte Naomi.
Ich starrte sie an. »Du hast eine existenzielle Krise und weißt trotzdem über unsere Neuankömmlinge Bescheid?«
Naomi tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Wissen ist Macht, meine Liebe.«
»Wer ist sie denn?«, fragte Lily ebenfalls flüsternd.
»Achtzehn. Schizophrenie. In Untersuchungshaft, weil sie ihre Mutter erstochen haben soll.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ihr Schizos seid so aggressiv.«
»Das musst du gerade sagen.«
»Treffer«, sagte ich.
»Sie schaut zu uns her«, sagte Lily, die wie ein Schulmädchen rot geworden war.
»Sie starrt Emily an.«
Das tat sie, deshalb lächelte ich und winkte ihr zu. Das neue Mädchen blickte daraufhin entsetzt weg.
»Du bist ein Rockstar, Emmy!«, flötete Naomi.
»Ja, ich bin der Kurt Cobain der psychisch gestörten Kriminellenszene.«
Naomi zwinkerte mir zu. »Wohl eher Courtney Love.«
Ich trat gegen ihr Stuhlbein.
»Sie wirkt so eingeschüchtert. Wir sollten sie morgen beim Frühstück zu uns an den Tisch nehmen«, schlug Lily vor.
Ich verdrehte die Augen. »Erst mal abwarten. Vielleicht ist sie ja die totale Psycho.«
Es sollte sich herausstellen, dass ich recht hatte. Denn vor einer Stunde hat uns die Neue alle aus den Betten aufschrecken lassen, weil sie … Aber das schreibe ich hier jetzt nicht, weil das nämlich nicht fair wäre. Ehrenkodex in der Unterwelt und all so was. Nur so viel: Sie wird morgen bestimmt nicht mit uns beim Frühstück sitzen.
[zurück]
S eit dem Zwischenfall mit dem Glücksort hatte ich mit Doktor Gilyard kein einziges Wort mehr gesprochen. Deshalb war ich darauf gefasst, dass die Sitzung in dieser Woche wieder grässlich werden würde. Doch es kam dann sogar noch schlimmer. Sie fühlte sich wohl besonders stark. Ich weiß nicht, ob sie das mit dir auch so macht, aber es kann sein, dass sie mich für eine oder zwei Wochen total in Ruhe lässt, und dann, WUMM !, landet sie mit einer Frage einen solchen Volltreffer, dass es mich glatt umhauen würde, wenn ich nicht bereits sitzen würde.
Heute war das wieder so. Sie begann die Sitzung mit dem Satz: »Ich würde gern mit dir darüber reden, warum du dich mit Juliet unbedingt anfreunden wolltest.«
Ihr Mut beeindruckte mich, weshalb ich meinen Vorsatz, ihr eine Stunde lang schweigend gegenüberzusitzen, ganz vergaß. »Na klar, musste ja irgendwann kommen.«
»Warum hast du sie nicht einfach umgebracht?«
Ich musste grinsen. Was für ein tollkühner Vorstoß von Doktor Gilyard. »Hätte ich das denn besser tun sollen?«
»Dein Onkel hat sich große Mühe gegeben, herauszufinden, wo das Zeugenschutzprogramm sie hingebracht hatte«, sagte sie, um klarzustellen, dass sie Bescheid wusste. »Und dann war es so weit, er erfuhr endlich –«
Ich unterbrach sie unwirsch. »Ja, er schmierte den Typen, der vom Zeugenschutzprogramm damit beauftragt worden war, ihr eine neue Identität zu verschaffen und sie vor uns zu verstecken. Und da wirft man mir vor, ich hätte keine Moral.«
Doktor Gilyard ging darauf nicht ein. »Dein Onkel wusste endlich, wo sie war; dass sie bei Pflegeeltern in Islington lebte – direkt vor seiner Nase, in seinem Revier –«
Ich unterbrach sie erneut. »Haben Sie gerade ›in seinem Revier‹ gesagt?«
»Warum hat er ausgerechnet dich hingeschickt, um sie zu erledigen?«
Ich lachte. »Was glauben Sie denn, wer mein Onkel ist? Don Corleone? Glauben Sie, ich war mit einem Killerauftrag unterwegs? Ich hab zufällig mitbekommen, was er rausgefunden hatte, und bin dann allein los. So war das.«
»Er wusste nichts davon?«
»Nein.«
»Wie hast du es dann geschafft, fortzukommen? Aus eurer Villa aus Marbella, meine ich. Hat man nicht auf dich aufgepasst?«
»Ich bin einfach fort«, meinte ich achselzuckend. »Jeden Sonntag sind wir mittags zum Essen gegangen, in ein Fischrestaurant direkt am Strand. Ich hab Onkel Alex erzählt, ich hätte mir den Magen verdorben, und gewartet, bis Nanna Koll und er aus dem Haus waren. Dann hab ich eine Tasche gepackt und bin gegangen. Mein Vater hatte mir für Notfälle eine Kreditkarte gegeben, mit der hab ich alles bezahlt, den Flug, das Hotel in London, alles. Als sie zurück in die Villa kamen,
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