Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Nachmittags folgte ich ihr durch Kunstgalerien oder sah ihr dabei zu, wie sie sich in Secondhandläden durch die Kleiderhaufen wühlte. Manchmal saß sie auch nur auf dem Oberdeck eines Busses und fuhr bis zur Endstation, stieg aus, überquerte die Straße und fuhr dann mit einem anderen Bus nach Hause.
Inzwischen war ihr Tagesablauf auch zu meinem geworden. Wenn ich am Abend in das perfekte, aber leere Apartment zurückkehrte, das Onkel Alex für mich gemietet hatte, hielt mich in den langen, einsamen Nächten nur die Vorstellung aufrecht, dass ich sie am nächsten Tag wiedersehen würde, wie sie mit dem weißen Pappbecher in der Hand aus dem Café an der Hauptstraße kam.
Aber sie hat mich nie gesehen. Kein einziges Mal. Was mich überrascht hat, denn ich war jedes Mal darauf gefasst gewesen, dass sie kurz aufblicken würde, wenn sich ihr in der U-Bahn jemand gegenübersetzte oder auf einer Parkbank jemand neben ihr Platz nahm. Doch sie war dafür wohl immer zu abgelenkt, weil sie gerade in einem Buch las oder weil sie etwas in ihr schwarzes Skizzenbuch zeichnete, das sie ständig dabeihatte. Ich hätte zu gern einmal gesehen, was sie da immer hineingekritzelt hat. Und am liebsten hätte ich dann alle ihre Zeichnungen durchgestrichen und auf jede Seite ICH WEISS , WER DU BIST geschrieben.
Drei Wochen hintereinander hat sie sich mittwochs in einem Café in der Nähe der Euston Station mit einem Mann getroffen. Dort herrschte immer lebhafter Betrieb. Touristen unterhielten sich laut miteinander, und unablässig strömten Männer in dunklen Anzügen durch die Schwingtür herein und hinaus, herein und hinaus. Männer, die ununterbrochen in ihre Handys redeten, erst einen der Barkeeper anfuhren und dann die Touristen, über deren Rucksäcke auf dem Boden man stolperte. Deshalb fiel es Juliet und dem Mann auch nicht weiter auf, dass ich jede Woche am Nebentisch saß und tat, als wäre ich ganz in
Der Fänger im Roggen
vertieft. Sie waren dafür viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Er war ihr psychologischer Betreuer, hieß Doktor Sahil und war ein gut gekleideter, ruhiger Mann mit schmalen Händen und Haaren in der Farbe von Mohnsamen. Doktor Gilyard erinnert mich an ihn, sie strahlt für mich dieselbe Ruhe und Gefasstheit aus, an der ich nur zu gern kratzen möchte. Später, nachdem wir Freundinnen geworden waren, erzählte mir Juliet, dass sie Doktor Sahil seit dem Tod ihrer Eltern regelmäßig traf. Der Umzug nach Islington habe daran nichts geändert.
»Warum willst du, dass wir uns jetzt hier sehen, Nancy?«, fragte er sie beim ersten Mal.
Ich fragte mich, ob es ihm wohl schwerfiel, sie nicht Juliet zu nennen.
Als sie darauf nicht antwortete, schlug er die Beine übereinander und blickte sie über den kleinen, runden Tisch hinweg an. »Warum fühlst du dich auf einmal unwohl dabei, wenn wir uns wie bisher in der Klinik treffen?«
Ich spähte über den Rand meines Buchs zu ihnen hinüber, aber Juliet antwortete auch darauf nichts. Sie zuckte nur mit den Achseln und fuhr fort, mit dem Finger den Rand ihrer Kaffeetasse entlangzustreichen.
So lief das jedes Mal; sie sagte nicht viel, und vor allem erwähnte sie nie den Namen meines Vaters. Kein einziges Mal. Sie sagte immer nur »er«, wenn überhaupt. Es war, als gäbe es ihn nicht, als hätte sie das alles nie getan. Vielleicht wollte sie ihren Therapeuten deswegen auch lieber im Café als in der Klinik treffen.
Schließlich hatte sie ja auch alles hinter sich zurückgelassen. Sie war jetzt Nancy Wells – und brauchte den Namen meines Vaters nie mehr in den Mund zu nehmen. Aber jedes Mal, wenn ich hörte, wie sie »er« sagte, hätte ich am liebsten ihre Haare gepackt und daran gezerrt, bis sie seinen Namen doch aussprach.
Ich erfuhr, dass sie schlecht schlief, zumindest erzählte sie das Doktor Sahil. Sie erzählte ihm, dass sie fast jede Nacht keuchend aufwachte, die Laken nass geschwitzt. Sie gaben ihr dafür Medikamente, aber als Doktor Sahil nachfragte, warum sie sie denn nicht nahm, sagte sie, das brauche sie nicht mehr. Die Zeit, in der sie ständig nur Albträume hatte, sei vorbei. Sie erzählte, dass sie manchmal träumte, am Rand einer Klippe zu stehen und auf das Meer hinauszuschauen.
Als sie ihren Traum beschrieb – das Blau des Himmels und das Blau des Meeres –, musste ich an das Cottage in Brighton denken, wohin wir mit Nanna Koll jeden Sommer gefahren waren, als Opa noch lebte. Es gab nicht weit entfernt davon einen Baum, auf
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