Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
zu Hause.
Das gehört zu den wenigen Regeln, die ich hier stillschweigend befolge.
Ich weiß nicht, was Naomi und Lily wirklich getan haben, um hier drinnen zu landen. Ich weiß zwar, welcher Taten man sie beschuldigt, aber dazu äußere ich mich nicht. Ich möchte, dass du sie als Menschen kennenlernst; ich möchte, dass du weißt, wer sie sind, und nicht nur, was sie angeblich getan haben. Wenn sie hier rauskommen, wird das nämlich alles sein, womit man sie in Verbindung bringt. Darauf werden wir doch alle reduziert, oder? Auf das, was wir getan haben. Dir ist das bestimmt auch nicht neu, du bist ja auch hier.
In der Schule haben sie uns beigebracht, dass Gott uns alles verzeiht, wenn wir ihn darum bitten. Aber das ist eine Lüge. Vergebung ist sinnlos, solange andere Menschen sich daran erinnern, was du getan hast. Manchmal frage ich mich, ob ich alle Fehler, die ich habe, jemals abschütteln kann, oder ob ich lebenslang an sie gebunden bleibe wie an ein Bündel roter Luftballons.
Unsere Regel, keine falschen Fragen zu stellen und keine Antworten darauf zu verlangen, wird von Doktor Gilyard jedenfalls nicht befolgt.
»Erzähl mir, wie es war, als du Juliet gefunden hast«, sagte sie vor ein paar Wochen.
Ich ging nicht weiter darauf ein, aber sie ließ nicht locker, da kann sie genauso hartnäckig sein wie ich. Eines Tages wird eine von uns beiden gewinnen. Ich bin schon gespannt, wer es sein wird. Sie oder ich.
»Das war drei Wochen nach der Gerichtsverhandlung deines Vaters, richtig?«
Schweigen.
»Juliet war im Zeugenschutzprogramm. Wie hast du sie gefunden?«
Schweigen.
»Es war dein Onkel Alex, richtig? Er hat dir erzählt, bei wem sie untergebracht war.«
Schweigen.
»Was hattest du vor, Emily?«
Den Rest der Sitzung redete ich kein Wort mehr, aber als Lily mich heute Vormittag gefragt hat, ob ich selber manchmal Heimweh hätte, antwortete ich ihr: »Nein, niemals.« Ich weiß nicht, warum ich ihr geantwortet habe. Es musste mit ihrem traurigen Lächeln und ihren zarten, schmalen Fingern zu tun haben, die die Zigarette umklammerten. Plötzlich wurde ich weich.
»Warum nicht?«
»Weil ich kein Zuhause habe«, sagte ich zwischen zwei Zügen an meiner Zigarette.
Sie blickte hoch. »Wie denn das?«
»Wenn man immer nur auf Internaten war, hat man irgendwann kein richtiges Zuhause mehr«, meinte ich gleichgültig.
Wahrscheinlich komme ich deswegen hier drinnen so gut zurecht. Ich bin es gar nicht anders gewohnt. Zu essen gibt es, was andere mir vorsetzen, zu einem Zeitpunkt, den andere bestimmen. Weder das Zimmer noch das Bett, in dem ich schlafe, gehören mir. Alles ganz normal für mich.
»Wenn ich an sowas wie zu Hause denke«, sagte ich eher zu mir selbst als zu Lily, »dann an die Wohnung, in der wir am Anfang gewohnt haben, als ich noch ganz klein war.«
»Wo war das?«
»Scarbrook Estate. In der Nähe vom Finsbury Park.«
Sie dachte ein, zwei Sekunden lang nach. »Sind da nicht Sozialwohnungen?«
Ich musste lächeln. Die meisten Leute glauben, dass ich in Surrey geboren wurde, weil das immer in den Zeitungen steht. Dort sind dazu dann Fotos von unserem Haus und von der Oldtimer-Sammlung meines Vaters abgedruckt (na ja, zu einer Sammlung reichte es wohl noch nicht, aber vier Oldtimer klingt wahrscheinlich nicht beeindruckend genug), deshalb glauben die Leute, ich sei wie eine Prinzessin aufgewachsen. Was ja auch nicht ganz falsch ist. Ja, ich war auf einem exklusiven Internat, für das mein Vater sehr viel Schulgeld bezahlen musste, und ja, wir hatten eine Villa in Marbella, und ja, ich fuhr einen Mercedes, und ja, ich trug Kleider aus Katzenflaumhaaren, und ja, ich bekam einmal zu Weihnachten ein kleines Einhorn geschenkt.
Ja, ja, ja. Das ist alles wahr.
Aber die ersten Jahre wohnten wir in einer Sozialwohnung.
»Und wann seid ihr nach Godalming gezogen?«, fragte sie.
Ich lehnte mich zurück und lächelte. Sie weiß, dass ich in Godalming gewohnt habe. So dumm ist sie gar nicht.
»Als ich drei war«, sagte ich. »Als meine Mutter uns verlassen hat.«
»Wo ist sie denn hin?«
Ich richtete mich auf. So lieb und süß Lily auch war, es gab eine unsichtbare Grenze, und auf die setzte sie gerade ihren Fuß. »Keine Ahnung.«
»Was? Sie hat dich einfach verlassen und ist nie mehr zurückgekommen?«
Es war höchste Zeit, dieses Gespräch abzubrechen. Ich fühlte mich, als hätte Lily auf einmal mein Herz in der Hand und drückte jetzt zu, fest genug, um darauf blaue Flecke zu
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