Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
alles, was in den Boulevardzeitungen steht. Es handelte sich um keinen Rachefeldzug. Als ich erfuhr, was mit meinem Vater geschehen war, war meine Reaktion nicht, Juliet dafür büßen zu lassen. Ich habe reagiert, wie wohl jeder andere auch reagiert hätte. Ich war entsetzt und verstört. Ich schämte mich für meinen Vater. Monatelang versuchte ich, alles einfach zu vergessen. Ich habe geglaubt, mit billigem Wodka und Zigaretten käme ich darüber hinweg.
Aber es klappte nicht.
Doktor Gilyard sagt, damals muss es wohl angefangen haben – und damit meint sie, dass ich allmählich durchgedreht bin. Das Irresein in meinem Kopf. Aber für mich fühlte es sich eher wie Trauer an. Es war, als würde in jeden Winkel meines Innern eine Schwärze vordringen, bis alles nur noch grau und schmutzig war. Mein Inneres war wie verkohlt und verbrannt, und wenn man mich aufgeschnitten hätte, wäre da nur Rauch gewesen, nichts sonst, so fühlte es sich an. Kein Herz. Keine Knochen. Nichts mehr war von mir übrig außer Wut. Eine Wut, die mir überallhin folgte. Sie hockte bei mir auf der Bettkante und sah mir beim Schlafen zu, und wenn ich aß, saß sie mir am Tisch gegenüber und schaute mich an.
Und so kam es, dass ich mich immer weiter in diese Wut verstrickte, bis sie mich schließlich ganz umkrallt hatte. Sie war das Element, in dem ich schwamm, in das ich tiefer und tiefer eintauchte, bis ich schließlich wie in einen Strudel hinabgezogen wurde. Als ich wieder auftauchte, hatte ich nur noch einen Gedanken: Juliet. Sie war an allem schuld. Und erst da fing es an. Ab dem Moment, als ich auf einmal alles klar bis zu dem Tag zurückverfolgen zu können glaubte, an dem Juliet auf meinen Vater eingestochen hatte und mein Leben auseinandergebrochen war. Ich glaubte, eine klare und gerade Linie zu sehen zwischen ihr und mir.
Scheint so, als würde ich gerade Linien doch nicht immer vermeiden.
Manchmal stolpere ich auch über sie und falle hin.
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S onntag. Musiktherapie.
Als Gruppe verbindet uns hier drinnen nicht viel, aber in unserem Hass auf die Musiktherapie sind wir uns einig. Ich liebe Musik, darum geht es nicht. Aber wie kann man daraus nur eine solche Qual machen? Wenn sie mir hier beibringen wollen, dass Gewalt keine Antwort auf irgendwelche Probleme ist, dann sollten sie mich vor allem nicht zwingen, an der Musiktherapie bei Kim teilzunehmen, einer übereifrigen jungen Australierin, die uns dauernd ABBA -Songs vorspielt, als könnten wir das Irresein in unseren Köpfen einfach so aus uns heraustanzen mit ein paar ABBA -Songs.
Kim ist erst zweiundzwanzig, deshalb glauben sie wahrscheinlich, dass wir uns problemlos mit ihr verstehen. Eine Beziehung aufbauen, nennen sie das hier. Geht aber nicht, weil Kim nämlich so glücklich ist. Glücklich, glücklich, glücklich, die ganze Zeit. Glücklich, wenn Halina ( 16 , posttraumatische Belastungsstörung) sich in die Hose macht. Glücklich, wenn Reta ( 17 , Schizophrenie) mit den Aliens zu quatschen anfängt, die zur Erde geschickt wurden, um sie zu beschützen. Glücklich, wenn Val nicht von ihrem Stuhl aufstehen und erst recht kein Musikinstrument aus der Kiste nehmen will. Glücklich, glücklich, glücklich.
Kim ist ganz klar die Verrückteste von uns allen hier.
Einmal habe ich Doktor Gilyard gefragt, weshalb man das Ganze überhaupt mit uns veranstaltet.
Natürlich antwortete sie darauf mit einer Frage.
»Was glaubst du denn, warum man das Ganze mit euch veranstaltet, Emily?«
»Es handelt sich um eine Folter, nichts anderes«, antwortete ich. »Wenn diese Irre noch einmal ›Dancing Queen‹ spielt, schreibe ich an Amnesty International. Lieber werde ich vom CIA gequält.«
»Welche Irre?«
Ich stöhnte auf, aber wahrscheinlich hatte Doktor Gilyard dieses eine Mal recht. Ich musste sie beim Namen nennen.
»Kim! Lassen Sie Kim doch mal hierherkommen.« Ich deutete auf das Büro ringsum. »Fragen Sie sie nach ihrer Beziehung zu ihrer Mutter. Sie kann doch nicht im Ernst glauben, dass bei uns ein bisschen Tamburingeschüttel hilft. Glaubt sie, dass Reta danach nicht mehr die Hohepriesterin von Maladoth für ihre beste Freundin hält?«
»Glaubst du nicht, dass es hilft?«
»Nein, natürlich nicht!«
Sie nahm ihre Brille ab und schaute mich an. »Glaubst du, auch Cellospielen würde nicht helfen?«
Darauf hatte ich gewartet. Lange schon gewartet.
»Zu ›Dancing Queen‹ kann man nicht Cello spielen«, sagte ich mit einem überheblichen
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