Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Lächeln. Aber ich spürte, wie mein Herz klopfte.
Sie kann doch nicht.
Sie wird doch nicht.
Sie wird doch nicht.
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H eute hat Doktor Gilyard mich gleich am Anfang unserer wöchentlichen Sitzung gefragt, ob ich denn oft wütend werde.
Das ist alles, was sie kann: Fragen stellen. Fragen, Fragen, Fragen. Wenn die Sonne im richtigen Winkel in ihr Büro hereinscheint, kann man die Fragezeichen in der Luft schweben sehen. Fragezeichen und Staub. Manchmal versuche ich dann, sie mit der Zunge aufzufangen, als wären es Schneeflocken. Natürlich geht das nicht, aber du solltest mal ihr Gesicht sehen, wenn ich es versuche.
Das erste Mal, als ich mit rausgestreckter Zunge in der Luft herumfuhr, blickte sie so besorgt drein, dass ich fast laut losgeprustet hätte. Ich konnte mich gerade noch zusammenreißen. Inzwischen kennt sie mich gut genug, um keine Miene zu verziehen, wenn ich so was in der Art mache. Sie klappt dann nur ihr Notizbuch zu und legt den Stift weg. Und dann höre ich meistens sofort damit auf, denn was habe ich davon, genau das Theater aufzuführen, das sie von mir sehen will, wenn sie nichts davon aufschreibt.
Ich würde nicht die Hälfte dieser merkwürdigen Verhaltensweisen zeigen, das schwöre ich, wenn nicht jemand da wäre, der dauernd darauf wartet.
Aber ich glaube, sie hat in den letzten Monaten auch ein paar Tricks dazugelernt, denn sonst hätte sie das mit Juliets Brief wieder so gemacht wie immer. Normalerweise versucht sie nämlich, ihn mir aufzudrängen; sie will ihn mir unbedingt geben, und ich drehe und winde mich und will ihn nicht haben. Heute allerdings legte sie den Brief einfach auf das niedrige Tischchen zwischen uns und lehnte sich dann in ihrem Stuhl zurück.
Sie kostete den Moment aus, als sie den Umschlag langsam umdrehte, sodass ich meinen Namen und die Adresse lesen konnte. Ich starrte erst den Umschlag an und dann sie, und als sie wieder nach ihrem Stift griff, spürte ich die Stille so deutlich, als wäre zwischen uns ein roter Teppich ausgerollt.
Den Rest der Sitzung sprach ich kein einziges Wort, und es hat richtig wehgetan zu schweigen. Wenn ich zum Brief hinsah, krampfte sich mir der Magen zusammen, ein richtiger, stechender Schmerz. Normalerweise liest sie mir den Brief laut vor, aber diesmal hab ich gewartet und gewartet, und sie hat es nicht getan. Er lag einfach nur da, auf dem niedrigen Tisch zwischen uns, und sie wartete darauf, dass ich nachgab und ihn schließlich nehmen würde.
Fast hätte ich es auch getan, weil ich unbedingt wieder bestätigt haben musste, wie dreckig es Juliet ging. Denn das ist das Einzige, was mich aufrecht hält: zu wissen, dass ich diejenige bin, die sich frei fühlt, obwohl ich hier drinnen festsitze und sie draußen frei herumlaufen kann. Aber ich rührte den Brief nicht an, und Doktor Gilyard las ihn mir nicht vor, deshalb werde ich es wohl nie mehr erfahren.
Ich werde mich die ganze Nacht schlaflos auf meiner Matratze wälzen und mich fragen, was in dem Brief gestanden haben mag.
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I ch glaube, Lily hat wegen mir zu rauchen angefangen. Ich hab sie davor nie rauchen sehen, aber jetzt hockt sie sich immer zu Naomi und mir, wenn wir unsere Zigaretten rausziehen. Naomi sagt, dass Lily sich in mich verliebt hat. Da kenne ich mich nicht aus, nur wenn es wirklich so ist, dann hat sie einen eher ungewöhnlichen Geschmack.
Nach dem Frühstück heute hatte Naomi ihre Sitzung bei Doktor Gilyard, deshalb waren Lily und ich allein. Ich beobachtete sie, wie sie versuchte, sich selber eine zu drehen. Sie kniff dabei die Augen zusammen und steckte die Zungenspitze heraus. Zuerst fand ich das noch komisch; sie konzentrierte sich so stark, als ginge es darum, eine Bombe zu entschärfen. Aber nach ein paar Minuten fingen ihre Hände an zu zittern. Als dann der Tabak an beiden Enden des Papierchens herausbröselte, nahm ich ihr alles weg, und mit ein paar flinken Handbewegungen rollte ich ihr die Zigarette.
Als ich sie ihr reichte, zündete sie sie nicht an.
»Heimweh«, sagte ich und nahm meine eigene Fluppe aus dem Aschenbecher.
Sie blickte vor sich auf ihre Füße. Ich bemerkte, wie sie sich verkrampfte. »Ich hab keine Lust, darüber zu reden.«
»Hab auch gar nicht gefragt.«
Es hatte sich um eine Feststellung gehandelt, keine Frage. Manches spricht man bei uns einfach nicht aus. Man fragt nicht, warum; man fragt nicht, wie; man fragt nicht nach morgen oder übermorgen, und man fragt nicht nach
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