Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
mich näher zu sich heran. Er flüsterte es mir ins Ohr. Ich spürte seinen warmen Atem, und beinahe hätte ich ihm mein ganzes Herz geöffnet.
»Dad«, flüsterte ich zurück. Ich schaute ihm in die Augen. Die Pupillen waren immer noch groß und schwarz. »Ich wollte gern Gitarre lernen, aber er ist da irgendwie, na ja, irgendwie altmodisch. Weil er selber mit vierzehn von der Schule musste, hat er jetzt den Tick, dass ich unbedingt eine gute Erziehung haben soll.«
»Und die wäre?«
»Gute Noten in Fächern wie Physik und Wirtschaft.«
»Jedenfalls nicht Kunst.« Sid grinste.
Ich schüttelte den Kopf. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. »Nein, nicht Kunst.«
»Und nicht Gitarrespielen.«
»Als ich das wollte, hat er mir das Cello gekauft.«
»Und jetzt?«, fragte er und sah mich dabei erwartungsvoll an, als wäre der Zeitpunkt gekommen, ihm von meinem heldenhaften Kampf mit meinem Vater zu berichten, den ich schließlich gewonnen hatte.
Ich blickte hinüber zu Juliet, die immer noch mit ihrem Handy beschäftigt war. »Jetzt?«, fragte ich zurück.
»Hallo«, sagte da laut eine Stimme hinter mir, und ich drehte den Kopf. Eine Frau ungefähr in Eves Alter – vielleicht ein bisschen jünger – lächelte mich an.
»Na, dann stell ich mich mal besser selber vor«, sagte sie und warf Sid einen etwas merkwürdigen Blick zu. »Du scheinst das ja nicht vorzuhaben, oder?«
Sid löste sich von mir. »Bitte, Mamma, nicht jetzt.«
Aber sie ließ sich nicht mehr aufhalten und legte mir die Hand auf die Schulter. Ihre Finger waren kalt. »Hallo«, sagte sie und gab mir links und rechts ein Küsschen auf die Wange. Sie roch nach Zigaretten und Haarspray. »Ich bin Gina, Sids Mutter.«
»Oh«, sagte ich. »Hallo, Mrs King. Schön, Sie kennenzulernen.«
Sie hielt ihr Glas mit Weißwein hoch. »Die Freude ist ganz meinerseits, Schätzchen.« Sie zwinkerte mir zu, und in diesem Moment sah sie genauso aus wie Sid. Sie hatten beide dieselben dunklen Haare und dunklen Augen, dieselbe honigfarbene Haut. In meinem Alter musste sie absolut umwerfend ausgesehen haben. Ich stellte sie mir mit siebzehn vor, die Augen dick mit Kajal umrahmt, Locken bis über die Schulter. Jede Wette, dass sie damals mit einem einzigen Augenaufschlag einem Jungen das Herz brechen konnte.
Aber seither waren viele Jahre vergangen. Sie wirkte auf mich irgendwie erschöpft und verbraucht und hatte dunkle Ringe unter den Augen, als ließen sie ihre Sorgen nicht richtig schlafen. Ihr Make-up war verschmiert, und ihr Kleid mit Leopardenmuster war ihr viel zu eng. Auf ihrem linken Oberarm hatte sie ein Tattoo mit einem chinesischen Symbol, bei dem ich an Olivias Schwester denken musste, die sich auf einer Reise durch Asien eine ganz ähnliche Tätowierung hatte stechen lassen. Sie hatte geglaubt, es würde »Frau« bedeuten, und fand später heraus, dass sie mit dem Zeichen für Hure durch die Gegend lief. Was sie wahnsinnig aufregend fand. »Ist das nicht geil?«, rief sie, als sie Olivia und mir davon erzählte, warf lachend den Kopf zurück und schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, dass die Salz- und Pfefferstreuer wackelten.
»Und, habt ihr Spaß?«, fragte Sids Mutter und meinte dann mit einem Blick hinüber zum Büfett, das schon fast leer geräumt war: »Haben sich echt Mühe gegeben, was?« Sie wirkte auf ihren hochhackigen Pumps leicht wackelig, während sie von ihrem Weißwein trank. Aber erst als ich merkte, wie Sid sich neben mir verkrampfte, wurde mir klar, dass sie betrunken war. Verlegen blickte ich weg, weil er bestimmt nicht wollte, dass ich sie in diesem Zustand sah.
»Er hört ja gar nicht auf, von dir zu reden«, sagte sie nach einem langen Schluck. Ihre Stimme hatte einen harten Klang. Es war jedenfalls nicht als Kompliment gemeint.
»Mamma –«, versuchte Sid sie zu unterbrechen, aber sie machte nur eine wegwerfende Handbewegung und redete weiter.
»Dauernd heißt es nur: ›Nancy hier, Nancy da‹.«
Nancy.
»Ich bin Rose«, sagte ich mit zitternder Stimme, während ich meinen Absatz so fest in das Parkett bohrte, als hoffte ich, dass sich dort ein riesiges Loch öffnen und mich verschlucken würde.
Sie blickte mich verwirrt an. »Was?«
»Mamma, lass uns woanders weiterreden«, sagte Sid. Er griff nach ihrem Arm, aber sie stieß seine Hand fort.
»Ich bin nicht Nancy, Mrs King. Ich bin Rose.«
Sie starrte mich an. »Wer?«, brüllte sie dann zurück, weil der DJ gerade
Don’t Stop Me Now
aufgelegt
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