Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
gern mit meinem Vater sprechen.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung hätte gleich auflegen sollen, was er nicht tat. »Du weißt, dass ich das nicht tun kann, Schätzchen.« Sein schottischer Akzent war so weich, dass ich mich am liebsten in ihn eingerollt und darin geschlafen hätte.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Ich muss trotzdem unbedingt mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig.«
»Handelt es sich um einen Notfall?«
»Er ist mein Vater. Ich habe ein Recht darauf, mit ihm zu sprechen.«
»Natürlich hast du das, Schätzchen, aber nicht um ein Uhr in der Nacht.«
»Wie heißen Sie?«, fragte ich in meinem schönsten Upperclass-Tonfall, den ich in St. Jude’s gelernt hatte.
»Nenn mich ruhig Bean.«
»Bean? Wie Mister Bean?«
Er lachte. »Ja, wie Mister Bean.«
»Okay, Bean. Ich will, dass Sie eine Nachricht an meinen Vater weitergeben. Sein Name ist Koll. Harry Koll. Kennen Sie ihn?« Als er daraufhin trocken meinte, klar, den kenne er, musste ich auch lachen. »Natürlich kennen Sie ihn! Jeder kennt meinen Vater. Direkt nach dem Teufel kommt Hitler und bald darauf mein Vater, auf der Liste der Übel irgendwo zwischen Pest und Cholera.« Wieder lachte ich, dann fuhr ich fort. »Egal. Sie müssen ihm jedenfalls eine Nachricht von mir ausrichten. Sie müssen ihm mitteilen, dass er mein Leben ruiniert hat. Werden Sie morgen in seine Zelle gehen und ihm das sagen, Bean? Bitte gehen Sie hinein und schleudern Sie ihm an den Kopf: He, Harry, deine Tochter hat wegen dir gar nichts mehr. Sie hat kein Zuhause mehr, sie kann nicht mehr an ihre alte Schule zurück, ihre Freundinnen gehen nicht mehr ans Telefon, und sie hat keine Ahnung, ob ihre Mutter überhaupt noch lebt. Werden Sie ihm das von mir ausrichten, Bean?«
Ich machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger, auch wenn er sie nicht sehen konnte. »Schreiben Sie’s auf, sonst vergessen Sie’s noch. Schreiben Sie es auf einen Notizzettel und kleben Sie ihn an die Gitterstäbe seiner Zelle. Sie haben das Leben Ihrer Tochter ruiniert, Harry. Nehmen Sie einen großen Zettel und schreiben Sie es in ganz großen Buchstaben darauf.«
Einen Moment lang war am anderen Ende der Leitung Schweigen, und ich dachte schon, Bean hätte aufgelegt. Aber dann hörte ich ihn seufzen. »Ich glaube, du solltest nicht so viel allein sein, Emily.«
»Na prima, und wie stell ich das an?« Ich lachte bitter auf.
»Emily …«, begann er, doch ich schüttelte den Kopf.
»Ich muss jetzt aufhören, Bean«, sagte ich hastig, bevor ich gleich wieder zu heulen anfing. »Sie sind ein guter Mensch. Wenn Sie diese Nachricht von mir weiterleiten könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Okay? Also dann, danke. Wiederhören.«
An das, was danach geschah, erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Ich weiß nur, dass ich irgendwann auf dem Sofa aufgewacht bin. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort geschlafen habe. Aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Danach wollte ich unbedingt einen Tee trinken, doch ich hatte keine Milch mehr.
Und deshalb machte ich mich schließlich auf und marschierte die Upper Street entlang.
Alle Läden waren geschlossen, darum wollte ich zur Tankstelle. Die Stimmung war merkwürdig. Überall waren die Lichter aus und die Rollläden heruntergelassen, und darauf waren plötzlich Graffiti zu sehen, die ich noch nie bemerkt hatte, wie geheime Botschaften, die man nur nachts lesen kann. Seltsam, keine Tische und Stühle vor den Cafés stehen zu sehen und an Schaufenstern vorbeizugehen, hinter denen makellos gekleidete Puppen standen und auf die leere Straße starrten. Ich kam mir vor wie in einem Zombiefilm. Als wäre ich mitten in der Nacht aufgewacht und merkte auf einmal, dass ich der letzte überlebende Mensch auf der Erde war.
Als ich an den Haufen mit den Müllsäcken und an den verlassenen Bushaltestellen vorbeikam, dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, der letzte Mensch zu sein. Wie ich dann weiterleben würde, beschäftigte mich. Nicht, wie es sich wohl anfühlen würde, allein übrig geblieben zu sein. Ich musste an das Baumhaus in der Nähe von unserem Cottage in Brighton denken, wie ich da immer gesessen hatte und die ganze Welt mir gehörte. Ich malte mir aus, irgendetwas sei geschehen, während ich schlief, und jetzt gehörte London mir. Ich konnte leben, wo ich wollte; konnte alles haben, was ich wollte. Während ich die Straße entlangging, fing ich an, alles in Besitz zu nehmen. Der Briefkasten an der Ecke, die gemalte
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