Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
ihm das Gesicht zu. Mein Herz pochte immer noch. Ich muss ihm keine Antwort gegeben haben, denn er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und fragte mich noch einmal. Seine Finger waren kalt, aber ich weiß noch, wie ich dachte: kalte Finger, warmes Herz.
»Ja«, antwortete ich leise.
»Wirklich?«
Mein Gehirn erholte sich allmählich von dem Schock, und ich blinzelte mehrmals, als wäre ich soeben aufgewacht. »Ja. Aber wie kommt es, dass du hier bist?«
Er wirkte erleichtert und strich mir ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren. »Eve und ich waren in einer Mitternachtsvorstellung von
Nosferatu
. Wir sind gerade auf dem Weg nach Hause.«
»Ein wahnsinnig toller Film«, murmelte ich, und er musste lachen.
»Aber was treibst du um diese Zeit hier?«, fragte er. Bevor ich etwas darauf antworten konnte, stand Eve neben mir.
»Oh, Rose«, sagte sie.
Mike fuhr sie wütend an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du im Taxi bleiben sollst.«
Sie beachtete ihn nicht und umarmte mich. »Alles in Ordnung? Was ist denn geschehen?«
Ich war noch nie so umarmt worden. Es war eine echte, richtige Umarmung – wie nur Mütter einen umarmen können –, und mir tat das Herz davon so weh, dass ich eine Sekunde lang keine Luft bekam. Ich schloss die Augen und presste die Wange gegen den Wollstoff ihres Mantels. Er roch nach ihr, nach der Kakaobuttercreme, die sie immer benutzte, und auf ihrem Schal war ein verschmierter grüner Farbklecks.
»Oh, Rose, mein kleines Mädchen«, sagte sie und küsste mich auf die Stirn. »Wirklich alles in Ordnung?«
»Ja«, murmelte ich. So erschöpft, wie ich war, hätte ich auf der Stelle einschlafen können.
»Du bist ja eiskalt!« Sie strich mir über die Arme. »Komm mit. Steig zu uns ins Taxi, bevor du dir noch eine Lungenentzündung holst. Wo ist deine Jacke?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Wir stiegen ins Taxi. Mike setzte sich neben den Fahrer, entschuldigte sich bei ihm und drehte sich dann zu mir. »Bist du betrunken, Rose?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Nein.« Ich schüttelte wieder den Kopf. Ich war nicht betrunken, aber ich war besoffen von so viel Zuwendung. So viel Aufhebens war das letzte Mal um mich gemacht worden, als ich vierzehn war und eine Nierenentzündung hatte. Ich wurde im Unterricht ohnmächtig, und Mr Lyndon, unser heiß geliebter Englischlehrer, trug mich höchstpersönlich auf seinen Armen ins Krankenzimmer. Eine Woche lang war ich für alle Mädchen in meiner Klasse der große Star.
»Warum bist du überhaupt allein unterwegs?«, fragte Eve. »Ich hab gedacht, ihr wolltet zusammen auf eine Halloweenparty, Nancy und du.«
»Waren wir auch.«
Mike blickte verwirrt drein. »Und wo ist sie jetzt?«
»Wahrscheinlich zu Hause.«
»Wahrscheinlich?« Eve runzelte die Stirn. »Seid ihr nicht zusammen von der Party nach Hause?«
»Doch, klar. Aber an der U-Bahn haben wir uns dann getrennt. Ich bin in meine Richtung gegangen und sie in ihre.«
Ich sah, wie Mike und Eve einen Blick austauschten. Eve dachte einen Moment nach, dann fragte sie: »Ist Nancy auch allein nach Hause gegangen?«
Das alte Taxi bog um eine Ecke. Ich rutschte auf dem Rücksitz gegen Eve, kicherte und antwortete: »Nein, sie war mit Sid zusammen.«
Sie tauschten wieder einen Blick aus. Eve wirkte wütend. »Moment mal. Sie hat dich um halb drei Uhr morgens allein nach Hause gehen lassen und ist mit Sid in die andere Richtung davon?«
»Ja.«
Ach, was war das für eine nette kleine Lüge. Fast stimmte es ja, aber eben doch nur fast. Es fiel mir schwer, nicht breit zu grinsen, weil es einfach zu schön war. Ich erinnere mich genau, wie es sich anfühlte, an die Spannung, die daraufhin im Taxi spürbar war; wie die Luft auf einmal elektrisch geladen war, als Mike zu Eve blickte und Eve zu Mike. Dann sahen sie beide mich an, die arme Rose.
»Wie, es ist tatsächlich schon halb drei?«, fuhr ich fort. »Wir haben zusammen die letzte U-Bahn genommen, also muss es ungefähr halb eins gewesen sein, als wir an der Angel Station ausgestiegen sind.«
Eva holte erschrocken Luft. »Und in der Zwischenzeit? Was hast du da getrieben?«
»Weiß nicht so genau«, meinte ich achselzuckend und nuschelte dabei extra ein wenig, um die Wirkung zu steigern.
Ich sah, wie Mike den Kopf schüttelte, aber er sagte nichts. Als das Taxi vor ihrem Haus hielt, sprang er sofort hinaus. Eve zahlte, legte mir draußen den Arm um die Schultern und führte mich durch den Vorgarten. Mike war
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