Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Augen, während ich meine Handflächen gegen seine Brust drückte. Ich spürte sein Herz schlagen, und als er seine Lippen auf meine presste, spürte ich, wie der Herzschlag schneller und schneller und schneller wurde. Ich bewirkte das, sagte ich zu mir, als auch sein Atem schneller ging. Ich bewirkte das.
Es war schon lange her, seit ich das letzte Mal einen Jungen geküsst hatte, und es fühlte sich eigenartig an. Mich umschwirrten dabei keine Engelschöre, ich hatte keine Schmetterlinge im Bauch, und das Kribbeln, das ich unter den Fußsohlen spürte, kam von der lauten Musik, die den Boden vibrieren ließ. Aber es war nett, ihn zu küssen. Leicht und unbeschwert. Und es war unglaublich erleichternd, das Gefühl von Einsamkeit wieder loszuwerden, das mich wenige Minuten zuvor befallen hatte.
Deshalb schloss ich die Augen und küsste ihn zurück. Nicht weil ich ihn besonders gern mochte oder weil er besonders charmant gewesen wäre, sondern weil ich eine riesengroße Sehnsucht danach verspürte, etwas anderes als dieses erbärmliche Gefühl von Verlust und Schmerz und Wut zu empfinden, das mein Herz immer härter machte. Der Wein hatte nicht geholfen. Juliet aufzutreiben hatte nicht geholfen. Einen Augenblick lang dachte ich, er könnte vielleicht helfen. Und selbst wenn er es nicht konnte, war es eine Erleichterung für mich, mich wieder ansatzweise wie normal zu fühlen, auf einer Party zu sein, leicht betrunken vom Rotwein – und einen Jungen zu küssen.
Seine Wange war rau, und als er damit an meiner rieb, kitzelten mich seine Bartstoppeln. Mich schauderte leicht, und meine geschlossenen Lider zuckten. Er musste das gespürt haben, denn seine Zunge fuhr daraufhin über meine Unterlippe. Ich zögerte eine Sekunde, dann öffnete ich meinen Mund, unsere Zungen berührten sich, und es gab einen Moment, in dem ich beinahe etwas verspürte. Beinahe. Doch da hörte ich auf dem Flur zwei Leute lachen, und es war vorbei.
Die Tür ging auf.
»Hier drin ist schon jemand«, fuhr er das Pärchen an, das hereinkam.
»Nein. Ist schon in Ordnung«, sagte ich und wischte mir über den Mund.
Er sagte etwas, aber ich hörte nicht zu, griff nach der Weinflasche und raste hinaus. Er rief meinen Namen hinter mir her, doch ich stürmte, ohne anzuhalten, den Flur entlang und die Treppe hinunter. Auf dem Weg zur Haustür stieß ich beinahe jemanden um. Jason und Ashley waren verschwunden, deshalb stürzte ich hinaus, knallte die Tür hinter mir zu und rannte durch den kleinen Vorgarten zur Straße. Wenn meine Lungen sprechen könnten, dann hätten sie in diesem Augenblick LUFT , LUFT , LUFT gekeucht.
»Nur du bringst es fertig, auf so einer Party Rotwein aufzutreiben«, hörte ich eine Stimme sagen.
Ich drehte mich um, und da saß Sid auf einer Bank vor dem Haus.
»Hallo«, sagte ich atemlos, und es hörte sich an, als wäre ich gerade mindestens fünf Stockwerke hochgerannt.
»Hallo«, sagte er mit einem Lächeln.
Und als er mich ansah, spürte ich es auf einmal; ich spürte alles, worauf ich in dem winzigen Zimmer vergebens gewartet hatte. Engel und Schmetterlinge und Regenbögen und ein Feuerwerk und alles, was es sonst noch gibt und was sich so unglaublich kitschig anhört, wenn man es aufschreibt. Aber wenn dich einer so ansieht, wie Sid mich in diesem Moment ansah, dann fühlen sich diese Bilder überhaupt nicht kitschig an. Ich hätte das alles besser nicht aufgeschrieben, denn jetzt habe ich es kaputt gemacht. Wenn ich es noch einmal durchlese, finde ich es nur noch billig und abgeschmackt. Aber das war es nicht.
Das war es nicht.
[zurück]
G estern Nacht hab ich von Sid geträumt. Wir waren beide hier. Ich stand vor meinem Zimmer auf dem Flur und rauchte eine Zigarette, und er kam die Treppe herauf. Als er mich sah, lächelte er. Nicht einfach nur irgendein Lächeln, nicht das Lächeln, das wahrscheinlich die meisten Mädchen umhauen würde. Sondern das Lächeln, bei dem ich mich immer irgendwo festhalten muss, weil mir dabei so ist, als würde gleich die Erdkugel aus ihrer Achse kippen. Ein Lächeln, das den Boden beben und die Wände wackeln lässt. Ein atemberaubendes Lächeln.
Das Lächeln, mit dem er immer Juliet angelächelt hat.
»Du mal wieder«, sagte er und nickte zu dem Rauchen-verboten-Schild hoch, das von der Decke hing.
Er nahm mir die Zigarette aus der Hand, und als sich unsere Finger berührten – nur die Fingerspitzen und nur für eine Sekunde –, wachte ich nach Luft
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