Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
antworten, doch Sid kam ihr zuvor. »Natürlich haben wir sie gefragt, ob wir sie nach Hause begleiten sollen, das ist doch klar«, verteidigte er sich. »Aber sie hat gesagt, sie wäre ja gleich da und alles kein Problem.«
»Zuerst einmal nennst du Rose bei ihrem Namen und nicht einfach nur ›sie‹«, fuhr Mike ihn an. Sid und er waren gleich groß, aber in diesem Moment wirkte Mike mindestens doppelt so groß. »Und dann erzähl ich dir jetzt mal was über ritterliches Benehmen, Sid. Ein Mann fragt da nicht lange, er handelt. Es war nach Mitternacht, und Rose war allein. Du hättest sie mit Juliet nach Hause begleiten oder sie wenigstens in ein Taxi setzen müssen, wenn du deinen Arsch schon nicht bewegen wolltest.«
Mike hätte Sid genauso gut ins Gesicht schlagen können, so am Boden zerstört sah er auf einmal aus, und als er mich zerknirscht ansah, ich will ganz ehrlich sein, flatterte mein Herz ein wenig. Ich weiß, wie böse das klingt, aber endlich einmal kümmerte sich Sid nicht nur um Juliet, wenn wir zu dritt im selben Raum waren.
»Ja, Mr Brewer«, sagte Sid. »Sie haben recht.«
Dann drehte sich Mike zu Juliet. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, fragte er. »Das ist Rose. Sie ist fast jeden Abend zum Essen bei uns. Ohne sie wären die ersten Wochen im College für dich viel schwieriger gewesen, das hast du doch selbst gesagt. Der Tod deiner Eltern, dein neues Leben hier bei uns – sie hat dir doch so viel geholfen. Und jetzt? Kaum hast du dich hier eingewöhnt, brauchst du sie nicht mehr?«
Juliet verschränkte die Arme. »Das stimmt nicht.«
»Dann hättest du dich darum kümmern sollen, dass sie sicher nach Hause kommt.«
»Aber sie geht doch immer allein nach Hause.«
»Sollte sie aber nicht«, rief Eve. »Machst du das denn?« Juliet schüttelte den Kopf. »Eben. Du gehst nicht allein nach Hause, weil du ja Sid hast. Rose will wahrscheinlich nur nicht unhöflich sein und sich aufdrängen, wenn du mit ihm zusammen bist.«
Eve schwieg einen Moment, um das Gesagte erst einmal wirken zu lassen. Juliet sollte es bis in die Knochen spüren. Dann setzte sie zum letzten, entscheidenden Stoß an. Schöner hätte es kaum sein können. »Sei nicht ein solches Mädchen, Nancy. Sei nicht so ein Mädchen, das ihre beste Freundin fallen lässt, sobald sie einen Freund hat.«
Als ich Juliet ansah, merkte ich, dass sie Tränen in den Augen hatte, und ich wusste, jetzt war es endlich geschehen. Ich hatte es geschafft.
Ein Riss war entstanden.
[zurück]
N aomis Verhandlung hat heute Vormittag angefangen. Seltsam, sie in einem Kostüm zu sehen, das Gesicht rosa geschrubbt und die Haare streng zurückgekämmt. Sie wirkte schmächtig, als die Wärterin sie hinausführte. Niemand wünschte ihr Glück. Nicht einmal ich. Ich habe sie nicht umarmt. Ich habe ihr nur meine Zigarette für Notfälle, die ich oben auf meinem Schrank versteckt habe, in die Hand gedrückt, als sie gegangen ist.
Doktor Gilyard ist mit ihr zur Verhandlung. Ich war froh darüber, dass meine Sitzung bei ihr ausfiel – so lange, bis für uns alle stattdessen Kunsttherapie angesetzt wurde. Weil bald Ostern ist, sollten wir hart gekochte Eier bemalen.
Ich weigerte mich, marschierte hinaus und schlief danach auf dem Sofa im Fernsehzimmer ein. Eine Stunde später wurde ich durch Gelächter aus der Studiokonserve aufgeweckt. Mühsam öffnete ich die Augen. Val saß neben mir und starrte in die Glotze.
»Hi«, sagte ich, aber sie rührte sich nicht.
Wir saßen eine Weile nebeneinander, Val starrte auf den Fernseher, und ich wartete. Wartete auf irgendetwas, ich weiß nicht, was. Vielleicht ein Lächeln von ihr. Oder dass sie bei einem der Witze Dick Van Dykes lachen musste. Nichts. Sie gab keinen Laut von sich.
Zuerst fand ich es ja noch ganz angenehm. So ruhig. Aber nach einer Weile machte mich das Schweigen unruhig. Ich begann, hin und her zu zappeln, zog die Knie heran, stellte die Füße wieder auf den Boden. Ich tippte mit der Fußspitze auf den Boden, nickte mit dem Kinn, klopfte mit den Fingern den Rhythmus der kitschigen Achtzigerjahre-Musik mit, wickelte die Haare um den Zeigefinger und drehte sie so fest ein, dass mir die Kopfhaut wehtat.
Nach fünf Minuten – fünf Stunden, Tagen, Wochen – drehte ich mich zu Val.
»Warum wolltest du wieder hierher zurück?«
Schweigen.
»Willst du nicht, dass es dir besser geht?«
Schweigen.
»Wartet da draußen keiner auf dich?«
Schweigen.
»Fühlst du dich
Weitere Kostenlose Bücher