Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
ist es.«
»Muss seltsam sein, hier Geburtstag zu feiern«, sagte ich. Weihnachten hier drinnen feiern zu müssen, fand ich schon schlimm – Truthahn und Rosenkohl schmeckt mit Plastikbesteck schauderhaft –, aber den Geburtstag? Eine unerträgliche Vorstellung!
»Wie hast du denn deinen letzten Geburtstag gefeiert, Emily?«
Ich sah sie an, der Nerv an meiner linken Schläfe pochte. Keine Ahnung, wie sie das macht, aber sie weiß immer, was ich gerade denke. Es muss mit genau solchen Momenten zu tun haben, wenn ich mich nicht besonders gut beherrschen kann. Dann habe ich das Gefühl, ihr alles erzählen zu müssen, damit sie mich versteht. Und dann denke ich mir wieder: Was gibt es da groß zu verstehen? Ich bin die Tochter meines Vaters. Ich bin, wer ich bin. Es liegt in meinen Genen.
»Ich war mit Sid und Juliet auf einem Konzert.«
Sie blickte in ihr Notizbuch. »Das Konzert, von dem du das letzte Mal erzählt hast?«
Als ich nicht antwortete, schaute sie mich an. »Musst du an Sid denken? Bist du deswegen heute so fickerig?«
Ich schlug die Beine übereinander und ballte die Hände zu Fäusten. »Gibt es dieses Wort überhaupt?«
»Hast du denn schlafen können?«
»Kaum«, sagte ich mit einem Seufzer und starrte auf den Riss in der Wand, direkt über ihrer linken Schulter.
Darauf sagte sie nichts, deshalb seufzte ich noch einmal. »Ich habe an meinen Vater denken müssen.«
Doktor Gilyard setzte sich noch aufrechter hin als vorher. »An deinen Vater?«
»Ja.«
»Vermisst du ihn?«
Die Frage war so brutal direkt, dass ich ihr nicht in die Augen schauen konnte. Ich ertrug es auch nicht, in ihrer Nähe zu sein; denn ich wollte nicht, dass sie womöglich bemerkte, wie mein Kinn zitterte. Deshalb stand ich auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Ich wollte mir eine Zigarette holen. Aber als ich ihren Drehstuhl sah, setzte ich mich auf einmal hinein. Ich hatte das vorher noch nie getan. Ich weiß nicht, wie ich plötzlich darauf kam.
»Emily«, ermahnte mich Doktor Gilyard, als ich anfing, mich auf dem Stuhl im Kreis zu drehen.
Als mir schwindlig wurde, hörte ich auf und presste meine Handflächen auf ihren Schreibtisch. Ich hörte mich lachen, während ich allmählich wieder klarer sehen konnte, und es klang seltsam, als käme das Lachen aus dem Zimmer nebenan.
»Vermisst du deinen Vater, Emily?«, fragte sie noch einmal.
Ich reagierte nicht, sondern nahm einen Kugelschreiber und kritzelte auf ihrer Schreibtischunterlage herum. Herzen, Blumen, Schmetterlinge – alles, was Mädchen eben so vor sich hin malen.
Schließlich hörte ich damit auf und betrachtete das Gewirr der blauen Kugelschreiberlinien.
»Heute vermisse ich ihn«, sagte ich.
Auch dieser Satz klang so, als käme er von jemandem aus dem Zimmer nebenan.
»Wegen des Konzerts?«
Ich nickte.
»Warum?«
»Ich wollte so gern auf dieses Konzert. Unbedingt. Noch nie hatte ich mir etwas so sehr gewünscht.« Ich fing wieder an, Kringel zu malen. »Mir war klar, dass wir nur zwei Karten hatten, deshalb bemühte ich mich, möglichst cool zu bleiben, aber es fiel mir echt schwer. Und als wir dann in der U-Bahn zusammen hingefahren sind, stieg in unseren Wagen eine ganze Gruppe von Jugendlichen ein, die auf ihre weißen T-Shirts mit schwarzem Filzstift NO SLEEP TILL BRIXTON geschrieben hatten.« Als ich daran dachte, musste ich lächeln. »Wir haben die ganze Fahrt schon mal abgetanzt, während die Rushhour-Leute uns über den Rand ihrer kostenlosen Zeitungen hinweg blöd anglotzten.«
Als ich zu Doktor Gilyard blickte, sah ich, dass sie sich Notizen machte. »In Brixton sind wir dann gleich die Rolltreppen hoch. Ich rannte wie ein kleines Kind, bis mir die Puste ausging. Mein Herz klopfte so wild, dass mir ganz schwindlig wurde. Aber auf eine gute Weise, vor lauter Aufregung.«
Sie nickte.
»Als wir dann aus der U-Bahn kamen, warteten da schon die Schwarzhändler, die laut › BEASTIE - BOY - TICKETS ‹ brüllten, und › ANKAUF , VERKAUF !‹, als würden sie auf dem Chapel Market Äpfel in 5 -Kilo-Säcken an den Mann bringen wollen. Und es lag diese Spannung in der Luft, ein richtiges Knistern. Ich spürte, wie ich davon Gänsehaut bekam. Vor der Academy brach ich dann fast in Tränen aus, als ich daran dachte, dass ich vielleicht nicht reinkommen würde.«
Ich blickte zu Doktor Gilyard. »Waren Sie da schon mal?« Als sie nicht antwortete, redete ich einfach weiter. »Eigentlich nichts Besonderes. Es führt keine Allee dorthin wie
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