Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
am Arm. Sie hatte sie auch in Glastonbury gehört und ihr Handy verloren, während sie
Sabotage
spielten. Sie sagte –« Ich musste noch einmal Luft holen. »– sie sagte, vielleicht hätte ich ja sogar neben ihr gestanden.«
Ich hörte, wie Doktor Gilyard das aufschrieb. »Durchaus möglich.«
Bis zu jenem Nachmittag, als wir nebeneinander bei unseren Schließfächern standen, war ich nie auf die Idee gekommen, dass Juliet und ich vielleicht Freundinnen hätten werden können, wenn alles ganz anders verlaufen wäre. Wenn unsere Wege sich bei irgendeinem Konzert gekreuzt hätten und ich ihr gesagt hätte, dass ich ihre Schuhe mochte, und sie mir gesagt hätte, dass ihr meine Haare gefielen. Aber immer wenn ich jetzt daran dachte, spürte ich, wie die Mauer zwischen uns wankte und bröckelte. In solchen Momenten war nur noch ein weißes Laken zwischen uns, in das an einer Wäscheleine der Wind fuhr. So ging es mir seither manchmal, wenn wir in der Cafeteria waren und sie mir aus heiterem Himmel ein Schokoladencroissant kaufte oder wenn sie über etwas, das ich gesagt hatte, so laut lachte, dass ich selber auch lachen musste.
Vielleicht wären wir richtig gute Freundinnen geworden, wenn sie mich wirklich kennengelernt hätte. Nicht die Emily, die sie Stück für Stück auseinandernehmen wollte. Sondern die Emily, die nach Glastonbury gefahren war, um dort die Beastie Boys zu hören, und die das Band vom Konzert so lange trug, bis es ihr vom Handgelenk fiel. Aber sie würde diese Emily nie kennenlernen, und ich würde nie die Juliet kennenlernen, die nach Glastonbury gefahren war und ihr Handy verloren hatte, als sie zu
Sabotage
auf und ab hopste.
Die Juliet, die nicht auf meinen Vater eingestochen hatte.
Vielleicht gibt es ja irgendwo eine andere Welt, in der sie und ich Freundinnen sind. In der wir glücklich und eins sind und nicht das Produkt der Entscheidungen unserer Väter. In der wir wir selbst sein können, nicht diese ausgedachten Personen mit ausgedachten Namen und ausgedachten Erinnerungen.
»Sid hatte nur zwei Karten gewonnen«, erläuterte ich Doktor Gilyard, während ich mit dem Finger an einem Buchrücken entlangfuhr. »Ich dachte zuerst, dann könnte ich nicht mit, aber Juliet wollte davon nichts hören. Sie sagte, ich müsste unbedingt mitkommen, weil ich ihr
Licensed to Ill
geschenkt habe, kurz nachdem wir uns im College kennengelernt hatten. Als sie nach ihrem Umzug erst mal überhaupt keine Musik mehr hatte. Sie hat gesagt, dass sie eher ohne Sid als ohne mich auf ein Konzert der Beastie Boys gehen würde.«
»Und was habt ihr dann gemacht?«
»Sie hatte einen Plan ausgeheckt, aber falls er nicht funktionieren würde, sagte sie, und ich nicht reinkäme, würden wir die Tickets verkaufen und uns alle miteinander betrinken.«
»Also war sie wild entschlossen, dich mitzunehmen?«
Sie vertraute fest auf ihren Plan, und ich hätte hochzufrieden mit meinem sein können. Alles lief wunderbar: Ich war ihre beste Freundin und gehörte zu ihrem Leben. Aber etwas in mir krümmte sich zusammen.
»Wie hast du dich dabei gefühlt, Emily?« Doktor Gilyard konnte wirklich Gedanken lesen.
»Ich hasste sie in diesem Augenblick«, sagte ich, und meine Stimme zitterte dabei. »Noch mehr als sonst.«
»Warum?«
Doktor Gilyard hatte recht. Juliet und ich haben viel gemeinsam. Sie hat ihre Mutter früh verloren. Ich habe meine Mutter früh verloren. Sie hat ihren Vater verloren. Ich habe meinen Vater verloren. Sie musste neu anfangen. Ich musste neu anfangen. Sie musste so tun, als sei sie jemand anders. Ich musste so tun, als sei ich jemand anders. Aber während es ihr damit immer besser ging, ging es mir damit immer schlechter. Sie hatte sich befreit und war durch das, was ihr widerfuhr, stärker geworden, während ich mich davon nicht lösen konnte. Ich klammerte mich daran, bis es unter meinen Fingern schwarz und hässlich geworden war. Und ich hasste sie dafür.
Hasste sie.
»Warum hasst du sie, Emily?«
»Weil sie mich ständig daran erinnert, dass ich mir das selbst angetan habe.«
[zurück]
M ontag. Dienstag. Mittwoch. Ich weiß nicht mal mehr, welcher Tag es ist. Ich weiß nur, dass ich mit Doktor Gilyard jetzt viel mehr quassle. Ich hab das gar nicht vor, es geschieht einfach mit mir. Ich erzähle einfach so vor mich hin, als würde ich im Schlaf reden.
»Heute ist Retas Geburtstag«, platzte ich diese Woche heraus.
»Ja, so ist es.«
»Sie wird heute achtzehn.«
»Ja, so
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