Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
hinterlassen.
Deshalb stand ich auf. Ich spürte ihre Blicke auf mir, als ich hastig die Zigarette ausdrückte. Wahrscheinlich hatte sie noch viele weitere Fragen auf Lager, aber sie sagte kein Wort mehr, und als ich fortging, lief sie mir auch nicht hinterher.
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S eit Doktor Gilyard mir Juliets Brief einfach nur so hingelegt hatte, hab ich nicht mehr mit ihr geredet. Es ist zu einem Willenskampf geworden. Ihr Wille gegen meinen. Ich weiß nicht einmal mehr, wofür ich überhaupt kämpfe. Ich weiß nur, dass ich das Gefühl habe, mich ihr auszuliefern, wenn ich jetzt nachgebe.
»Ich möchte noch einmal zu dem Tag zurückkehren, an dem du Juliet gefunden hast«, sagte sie heute Vormittag in der Sitzung, als wäre das dann tatsächlich auch der Fall. Als würde ich darauf »Klar, Doc! Gern« antworten und alles ausspucken, was sie hören will.
Ich stöhnte und verschränkte die Arme.
»Du hast gar nichts gemacht, Emily, hab ich recht? Als du wegen ihr nach London bist, war es August. Warum hast du bis September gewartet, bevor du sie das erste Mal angesprochen hast? Warum hast du es erst getan, als ihr beide auf demselben College wart?«
Sie wartete darauf, dass ich ihr eine Antwort gab. Aber ich drehte den Kopf weg.
Doktor Gilyards Büro ist fast leer. Es gibt dort nur ein paar Möbelstücke – die zwei Stühle, auf denen wir sitzen, den niedrigen Tisch zwischen uns, ein Regal, den Schreibtisch und den Schreibtischstuhl, das ist alles. Keine Topfpflanze in der Zimmerecke, kein eingerahmtes Diplom und keine Blumen- oder Landschaftsbilder an den Wänden.
Es ist ein öder, trostloser Raum. Aber wenn ich Doktor Gilyard nicht weiter beachten will, gibt es trotzdem ein paar Details, mit denen ich mich ablenken kann. Der Wasserring auf dem Tisch. Der lose Faden des Stuhlbezugs. Unlängst habe ich einen Riss in der Wand entdeckt und konzentriere mich jetzt immer darauf. Nichts weiter als eine haarfeine Linie im Verputz, die so aussieht, als wäre jemand mit dem Bleistift die Wand entlanggefahren. Diesen Riss kann ich nun schon wochenlang anstarren. Er ist inzwischen vielleicht sogar größer als am Anfang, aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich rede mir jedenfalls ein, dass er immer größer wird, je länger ich ihn anstarre, und dann wird aus dem Riss allmählich ein Spalt und aus dem Spalt ein großes Loch in der Wand – und eines Tages breche ich durch das Loch aus dem Gefängnis hier aus.
»Warum hast du sie nicht einfach zur Rede gestellt, wenn das doch dein Plan gewesen war?«, fragte sie nach.
Als ich keine Antwort gab, hörte ich sie etwas in ihr Notizbuch schreiben.
»Ich bin gestern noch mal die Abschriften von Juliets Aussagen durchgegangen. Sie sagt, dass sie sich nicht daran erinnern kann, dich gesehen zu haben, bevor ihr euch im College kennengelernt habt. Stimmt das?«
Juliet erinnert sich nicht daran, mich vorher schon mal gesehen zu haben, weil ich alles daransetzte, von ihr nicht gesehen zu werden. Einen Monat lang habe ich meine Kreise um sie gezogen. Ich bin ihr überallhin gefolgt. Über Brücken. Über Rolltreppen. Ich trödelte im Supermarkt hinter ihr her, beobachtete, wie sie an Pfirsichen roch oder die Angaben auf der Rückseite von Lebensmittelpackungen las. Einmal saß ich sogar im Kino in der Reihe hinter ihr. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welcher Film es war, ich erinnere mich nur noch daran, dass ich sie die ganze Zeit anschaute – ich schaute und schaute und wartete darauf, dass sie irgendetwas machte, dass sie lachen würde oder weinen oder auch einschlafen. Irgendetwas. Es war, als wäre mein Leben zu einem Echo ihres Lebens geworden. Wenn sie an jenem Nachmittag mitten während des Films gegangen wäre, dann wäre ich auch gegangen. Wäre sie nach dem Film geblieben und hätte sich noch einen weiteren angeschaut, dann wäre ich auch geblieben und hätte die ganze Zeit sie angeschaut.
Zu diesem Zeitpunkt kannte ich ihren Tagesablauf schon in- und auswendig. Ich wusste, dass sie jeden Morgen einen Becher grünen Tee im Café an der Hauptstraße kaufte und ihn dann in der Buchhandlung daneben trank, wo sie sich neben dem Lyrikregal einfach auf den Boden setzte. Eine Stunde später kam sie meistens mit einem halb gelesenen Taschenbuch wieder heraus und machte sich auf den Weg in den Park, wo sie die Büroangestellten beobachtete, die auf ihren Anzugjacken auf dem Rasen saßen, die letzte Sommersonne genossen und in ihre Sandwiches bissen.
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