Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
mich bereits an ihm abstützte.
»Was?«
»Sie hat versucht, sich umzubringen.«
»Was?«
»Er hat sie gestern Abend gefunden, als er nach Hause gekommen ist.«
Jeder Satz war wie eine Ohrfeige. Ich starrte sie an. »Gestern Abend?«
Plötzlich wurde mir so übel, dass ich Angst hatte, Juliet vor die Füße zu kotzen.
»Daran bin ich schuld«, murmelte ich.
Ich dachte, sie hätte es nicht gehört. Aber als ich sie anschaute, war mir klar, sie hatte. Sie war so wütend, dass sie mich wahrscheinlich am liebsten geschlagen hätte. »Kannst du das ein einziges Mal bleiben lassen, Rose?«
»Was bleiben lassen?«
»Kannst du ein einziges Mal irgendetwas nicht auf dich beziehen?«, rief sie. »Du hast schon echt eine Begabung, es bei jedem Gespräch und in jeder Situation immer fertigzubringen, dass die Welt sich nur um dich dreht. Sogar wenn Sids Mutter versucht hat, sich umzubringen, geht es wieder mal nur um dich.«
Sie verdrehte die Augen, und ich hätte mich am liebsten auf sie gestürzt und ihr erklärt, dass ich kein großes Theater machte. Es hatte tatsächlich mit mir zu tun. Wenn Sid nämlich am Abend vorher nicht nach mir gesucht hätte, wäre er wahrscheinlich früher nach Hause gekommen, und dann hätte er vielleicht noch mit seiner Mutter reden und sie davon abhalten können. Aber Juliet schien ihre kleine vorwurfsvolle Rede schon fertig vorbereitet zu haben, deshalb ließ ich ihr ihren Auftritt.
»Wenn du eine Glühbirne wechselst, Rose, hältst du sie dann auch einfach nur nach oben –«, sie zeigte zur Decke, »– und wartest darauf, dass die Welt sich um dich dreht?«
Ich hätte sie in diesem Moment umbringen können. Ihr das Lächeln vom Gesicht reißen. Aber ich richtete mich einfach nur auf. Ich war bloß ein paar Zentimeter größer als sie, doch das reichte.
»Und? Fühlst du dich jetzt besser?«
»Nein.« Sie verschränkte die Arme wieder vor der Brust. »Sids Mutter liegt auf der Intensivstation, aber er macht sich gerade verrückt damit, dass dir etwas zugestoßen sein könnte. Könntest du ihm deshalb verdammt noch mal sagen, dass bei dir alles okay ist, damit er sich eine Weile ganz auf seine Mutter konzentrieren kann? Ich glaube, sie braucht jetzt seine Aufmerksamkeit mehr als du. Man versucht ja nicht jeden Tag, Selbstmord zu begehen.«
Daraufhin knallte ich ihr die Tür vor der Nase zu, sonst hätte ich ihr doch noch einen Kinnhaken verpasst.
Zum Glück war sie nicht im Krankenhaus, als ich hinkam.
»Ro!«, rief Sid, als er mich sah. Wahrscheinlich hätte ich mich ganz verlegen fühlen müssen, nachdem ich während des Konzerts einfach so abgehauen war. Aber wie wir beide da mitten im Wartezimmer der Intensivstation standen, umringt von zitternden, schluchzenden Familien, kam mir das alles so wahnsinnig albern und unwichtig vor.
Er umarmte mich und drückte mich fest an sich. Als wir uns voneinander gelöst hatten, schaute ich ihm lächelnd in die Augen und fragte ihn, ob denn bei ihm alles in Ordnung sei.
»Ist denn bei
dir
alles in Ordnung?«, fragte er zurück.
Ich blickte mich suchend um, ob Juliet gleich auf mich zugestürzt käme.
»Wo ist Nance?«
»Kurz nach Hause. Eve wollte unbedingt irgendwas mit ihr besprechen.«
Ich wollte schon nachfragen, was denn, aber ich wusste es ja. Meine Wangen fingen an zu brennen, und das Wort blieb mir im Hals stecken. Ich versuchte, schnell das Thema zu wechseln. »Ich hab dir was mitgebracht.«
Ich hielt eine Plastiktüte hoch, und er spähte hinein. »Ein paar Smarties wären jetzt nicht schlecht.«
»Bingo! Das ganze Bier hab ich nämlich selber schon im Bus getrunken.«
Er warf den Kopf zurück und lachte. Noch nie war ich so erleichtert gewesen, jemanden lachen zu hören. Es klang so warm und so heiter, dass ich einen Moment selber lachen musste.
»Nur du bringst es fertig, hier drinnen darüber einen Witz zu machen, Ro.«
Erst da begriff ich, was ich gerade gesagt hatte, und stammelte: »Oh, tut mir leid. Daran hab ich gar nicht gedacht.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte er, legte mir den Arm um die Schultern und drückte mir einen Kuss auf die Haare. »Ich möchte jetzt auch eine Weile lieber nicht dran denken.«
»Zigarette?«, fragte ich.
»Schnell. Bevor Nance zurückkommt.«
»Aber jetzt sag: Wie geht es deiner Mutter?«, fragte ich, als wir auf den Lift warteten. In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum, dessen Lichter fröhlich blinkten. Ich erinnere mich noch daran, wie fehl am
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