Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Platz – und wie geschmacklos – er wirkte, direkt neben einem Plakat, das die Besucher daran erinnerte, sich die Hände zu desinfizieren, bevor sie die Intensivstation betraten.
Sid steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Achseln. »Es geht ihr besser. Sie verlegen sie heute Nachmittag noch auf eine normale Station. Aber sie hat versucht, sich umzubringen, deshalb glaub ich nicht wirklich, dass es ihr gut geht.«
Als er das zu mir sagte, blieb mir einen Moment die Luft weg, und ich schaute ihn nur stumm an.
»Es tut mir so leid, Sid«, meinte ich dann. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Ich starrte auf meine Füße.
»Schon in Ordnung, ich hab auch keine Lust, darüber zu reden.«
Zum Glück kam der Lift. Sid hielt die Tür auf, und wir quetschten uns zu den anderen hinein. Sobald die Tür zugefallen war, griff ich nach seiner Hand, wie ich das auch auf dem Friedhof getan hatte. Ich schaute ihn nicht an, und er schaute mich nicht an, ich drückte nur seine Hand, und er drückte als Antwort meine Hand; so fest, dass ich spürte, wie mein Ring gegen meine Fingerknöchel drückte.
Als wir draußen vor dem Krankenhaus standen, bedrängte ich ihn nicht. Ich fragte nicht, wie es ihm ging, oder erklärte ihm, dass alles wieder gut werden würde; ich zündete nur eine Zigarette an und reichte sie ihm. Wir ließen sie zwischen uns hin- und hergehen, und als wir sie ausgeraucht hatten, setzte er sich aufs Geländer und blickte mich an.
»Komm her«, sagte er, und ich dachte, wie erschöpft er wirkte, genau wie seine Mutter bei der Hochzeit seines Cousins. Als hätte er seit Monaten und Jahren nicht mehr richtig geschlafen.
Ich stand vor ihm, zwischen seinen Beinen, und als er seine Arme um mich legte und mich zu sich heranzog, fröstelte ich. Und als er dann den Kopf vorbeugte, sodass seine Stirn auf meiner Schulter lag, fröstelte ich wieder. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Vermutlich hätte ich ihm etwas Tröstliches sagen, ihn festhalten und ihm erzählen sollen, dass alles gut werden würde, aber ich stand nur da und presste meine zu Fäusten geballten Hände gegen seine Jacke, damit ich ihn nicht berührte.
Das hab ich nie getan, musst du wissen. Ihn berührt, meine ich. Ich habe gelesen, was sie alles in den Zeitungen geschrieben haben; dass ich mich auf ihn gestürzt hätte, dass ich ihn verführt hätte. SCHAMLOS , wie der
Mirror
einmal in riesengroßen Buchstaben unter ein Foto von mir schrieb. Aber ich habe ihn nie berührt.
Ich hätte es oft gern, warum soll ich lügen. Wenn wir zusammen im Park waren und Pommes gegessen haben und uns unser absolutes Lieblingskonzert in Glastonbury ausgemalt haben, dann hielt ich es manchmal überhaupt nicht mehr aus. Wie oft hätte ich beinahe in seine Haare gegriffen und eine seiner schwarzen Locken um meinen Finger gewickelt. Oder wäre gerne mit meinem Daumen seine Unterlippe entlanggefahren. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe es auch an dem Nachmittag nicht getan. Ich wartete nur darauf, dass er wieder den Kopf hob und mich anschaute.
»Danke, Ro«, sagte er mit einem tiefen Seufzer.
Ich zwang mich, seine Jacke loszulassen. »Wofür?«
»Dafür.«
»Wofür denn? Ich hab doch nichts gemacht.«
»Eben«, sagte er mit einem erschöpften Lächeln. »Nance ist wunderbar, sie ist wirklich für mich da, aber sie ist immer so praktisch. Bisher hat sie mir heute schon zwei Sandwiches gebracht und fünf Tassen Tee und außerdem jede Menge Prospekte über Depression, die ich gleich durchlesen musste.« Er rieb sich kurz mit beiden Händen die Augen. »Sie hat sich sogar schon drum gekümmert, wo hier Treffen der Anonymen Alkoholiker stattfinden.«
»Ja, aber das ist doch alles wichtig. Ich hab dir eine Packung Smarties und eine Schachtel Benson & Hedges mitgebracht. Wie soll dir das denn weiterhelfen?«
»Tut es, Ro, tut es.« Er griff nach meiner Hand, und als er auf die Innenseite einen Kuss drückte, erschrak ich so sehr, dass ich zurückwich.
»Wir sollten nach drinnen gehen. Mir ist kalt«, sagte ich.
Aber er rührte sich nicht. »Ich bin schuld daran, Ro, ist es nicht so? Daran, was Mum passiert ist.«
»Was?« Ich machte einen Schritt zurück. »Nein!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte etwas unternehmen müssen, als ich die Flaschen fand.«
»Aber was hättest du denn tun sollen?« Ich wartete, bis er mich wieder ansah. »Es war ihre freie Entscheidung. Natürlich keine gute. Aber wir sind die Kinder, und
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