Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Steine liegen kunterbunt um ihn herum. Im Zimmer bereiten andere Kinder eine Lotterie vor. Sie liegen bäuchlings auf dem Boden, malen Spielgeld und schreiben Lose. Weitere stehen daneben und schauen ihnen neugierig zu. In |125| der Ecke sitzt einer der Erzieher auf dem durchgesessenen Sofa und liest eine Geschichte vor. Rechts und links von ihm haben sich die Kleinen an seine Seite gedrängt. Andere sitzen zu seinen Füßen oder liegen hinter ihm auf der Lehne. Hingerissen lauschen sie seinen Worten.
Doch kaum habe ich meine Kinder abgeholt und das Gelände verlassen, schiebt sich die eilige Wirklichkeit wieder in den Mittelpunkt. Sportprogramm, Musikunterricht, Verabredungen, Museumsbesuche – was kann man nicht alles in den kurzen Nachmittag zwischen Schule und Abendessen stopfen!
Inzwischen lasse ich mich in den Stunden, die wir mit unseren Kindern verbringen, bewusst von ihrem Zeitgefühl leiten. Ich achte darauf, dass wir nicht komplett verplant werden und am Wochenende nicht zu viel in einen Tag packen. Langeweile und Mußestunden sind nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht. Dazu gehört es, mehrmals in der Woche miteinander am Tisch zu sitzen und gemeinsam zu essen. Außerdem haben wir uns alle vier vorgenommen, den anderen immer erst ausreden zu lassen.
Das ist eine große Freude, denn diesmal muss ich keinen Widerstand gegen ein vorherrschendes Prinzip leisten. Ich kann mich vielmehr auf etwas einlassen, was eigentlich längst vorhanden ist und ich persönlich gut finde. Die Kinder machen mit, wenn sie überhaupt etwas davon merken, denn das neue Tempo entspricht ja genau ihren Bedürfnissen. Allein das Ausredenlassen ist nicht immer ganz leicht. Gerade wenn Murkel und Mücke gleichzeitig aus der Schule nach Hause kommen oder beide etwas gemeinsam erlebt haben, was sie unbedingt gleich erzählen wollen, fällt es ihnen nicht leicht, dem |126| anderen den Vortritt zu lassen. So waren die beiden neulich mit der Klasse im Zoo und wollten mir nach der Schule ausführlich davon berichten. Aufgeregt fielen sie sich gegenseitig ins Wort. Ich erinnerte sie an unsere neue Vereinbarung, und so knobelten sie so lange, bis sich heraus gestellt hatte, dass Murkel zuerst das Wort hat.
Dank dieser Regelung haben sie die Erfahrung gemacht, dass schließlich jeder einmal drankommt. Außerdem übt man sich im Zuhören. So stellte sich bei den Erzählungen über den Zoobesuch heraus, dass die Lehrerinnen die Kinder in Gruppen eingeteilt und die Geschwister daher ganz unterschiedliche Tiere gesehen hatten. Murkel war bei den Robben gewesen und erzählte von den lustigen Rutschpartien, die jene auf den nassen Steinen am Rande ihres Wasserbeckens veranstalten. Mücke hatte den Streichelzoo besucht und entdeckt, dass dort vor kurzem ein Zicklein geboren worden war. Eine ihrer Schulfreundinnen nahm das Tier sogar auf den Arm, während Mücke die Mutter mit Ziegenfutter ablenkte.
Eigentlich ist es fatal, dass dieses kindergerechte Prinzip im Alltag nicht zählt. Manchmal ist sogar gewisse Ablehnung zu verspüren, wenn man mit Kindern auftaucht. Solange man mit zwei Kleinen in die Straßenbahn einsteige, erzählte mir der Vater einer sechsköpfigen Familie, sei noch alles gut. Die Leute lächeln, nicken einem freundlich zu, und einige rücken sogar zur Seite und machen Platz. Doch sobald man ein drittes, viertes oder gar fünftes Kind dabeihat, ist es mit der guten Stimmung vorbei. Man erntet missbilligende Blicke.
Kinder haben sich hierzulande in eigens für sie abgesteckten Arealen aufzuhalten und möglichst leise und |127| schnell erwachsen zu werden. In Deutschland musste gerichtlich festgelegt werden, dass Kinder keinen Lärm im üblichen Sinne verursachen. Spielen ist ihnen ein elementares Bedürfnis, sie dürfen daran nicht gehindert werden. Kinder haben das Recht, in Hinterhöfen, Gärten und auf Spielplätzen – auch um die Mittagszeit und bis spätabends – laut zu lachen und zu rufen, zu rennen und zu toben. Wenn ihr Federball auf dem Nachbargrundstück landet, dürfen sie ihm dorthin nachjagen. Die dabei entstehenden Geräusche sind anderen Menschen grundsätzlich zumutbar. Sogar zum Schutz von Kleinkindern wurde eigens eine Bestimmung erlassen. So dürfen Babys ausdrücklich auch nach 22 Uhr noch weinen und schreien.
Schlimm genug, dass es daran überhaupt Zweifel gibt. Doch entsprechende Anzeigen gibt es immer wieder. In München beschwerten sich Anwohner über Jungen und Mädchen, die im Garagenhof
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