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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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VIERZIG:
KINDER
    Turnprogramm, Musikunterricht, Schulaufgaben, Geburtstagseinladungen, Museumsbesuche – was kann man nicht alles in einen Kindernachmittag stopfen? Ich verlangsame unseren Familienalltag und übe mich in Geduld. Langeweile und Mußestunden sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.

 
    |117| Mein Bruder Christoph ist von Natur aus eigentlich kein hastiger Mensch. Er ist im Gegenteil ein recht gemütlicher Zeitgenosse, der sich gern, besonders abends, wenn er seinen breiten Salonsessel erreicht und es sich darin erst einmal richtig bequem gemacht hat, auf lange Gespräche über das Leben im Allgemeinen und den Einzelnen im ganz Besonderen einlässt. Dazu trinkt er gern das eine oder andere Glas Rotwein, und je länger der Abend, desto reicher fließt der Wein und desto philosophischer werden seine Gedanken.
    Doch diesen ausgesprochenen Genießer und Lebemann hat, seit er Vater geworden ist, eine gewisse Unruhe erfasst. Nun gibt es Situationen, in denen selbst er ungeduldig, wenn nicht gar ungehalten werden kann. Solche Momente treten morgens früh an Wochentagen ein, und mit früh meine ich den Zeitraum zwischen sechs und acht Uhr, eine Uhrzeit, zu der viele Menschen längst arbeiten, andere noch fest schlafen, einige aber, und zwar insbesondere die Eltern von Schul- und Kindergartenkindern, zu Megastress auflaufen. Die Bedingungen, diese Phase unbeschadet und souverän zu überstehen, sind denkbar ungünstig. Alle sind müde, müssen sich jedoch eilig anziehen und für die Schule fertigmachen. Keiner hat Appetit, doch jeder muss etwas essen. Und immer fehlt genau dann, wenn es endlich losgehen soll, der alles entscheidende Gegenstand, sei es der Ranzen, sei es der Turnbeutel, sei es das Geschenk für den Schulfreund, der am Nachmittag zum Geburtstag eingeladen |118| hat, sei es die gefüllte Pausenbrotbüchse, eine mütterliche Unterschrift unterm Mathetest, die passende Mütze oder das entliehene Comicheft, das dringend zurückgegeben werden müsste. Es gibt wohl kaum einen Elternteil, der nicht mit Grauen an diese Tageszeit denkt. Was auch immer dabei schiefgeht – es überschattet den ganzen Tag. Erst nachmittags, wenn die Kinder aus der Schule zurück sind, oder sogar erst nach Feierabend können etwaige Wogen wieder geglättet werden.
    Nun, Christoph hat Söhne, und zwar zwei, und es gehört zu seinen Rechten und Pflichten, die beiden jungen Herren jeden Morgen auf dem Weg zu seinem Büro in der Schule abzusetzen. Und jeden Morgen steht das Haus um diese Uhrzeit kurz vor einem Vulkanausbruch. Neulich war es wieder so weit. Mein Bruder stand fertig an der offenen Haustür, klapperte mit dem Autoschlüssel und suchte das Abschiedsprocedere durch barsche Anweisungen voranzutreiben. »Zieht euch an.« »Wo sind die Fußballschuhe?« »Habt ihr die Butterbrote eingepackt?« »Vergesst nicht eure Mützen!« Sein älterer Sohn schlüpfte in die Schuhe, griff sich die Handschuhe und den Ranzen und zog hinaus Richtung Auto. Der jüngere hingegen war noch lange nicht fertig. Gemächlich saß er am Boden und band sich die Schnürsenkel, nachdenklich suchte er seine Sachen zusammen, und als er endlich seine Jacke zuknöpfte, hatte man immer noch den Eindruck, er habe nicht die geringste Absicht, heute pünktlich in der Schule anzukommen. Mein Bruder wäre vor Ungeduld beinahe geplatzt. Jeden Morgen das Gleiche. Warum konnte sich der Junge nicht beeilen? Endlich war es so weit, noch ein Kuss von der Mutter, und dann trabten Vater und Sohn gemeinsam im Laufschritt den Gehweg |119| entlang. Als sie endlich im Auto saßen, fragte mein Bruder mit Blick in den Rückspiegel: »Warum bist du nur immer so langsam?«
    Sein Sohn erwiderte den Blick und sagte: »Ich bin nicht langsam, Papi. Du bist zu schnell.«
    Kinder haben ihr eigenes Zeitgefühl. Sie leben ganz im Hier und Jetzt. Es gibt kein Später oder Bald, kein Morgens oder Abends. Zeiträume, die über die eigene Lebensspanne hinausgehen, sind für sie unvorstellbar. Ein straffer Zeitplan ist unter solchen Bedingungen kaum durchsetzbar. Am besten, man versucht es gar nicht erst.
    Was meine Recherchen zur Langsamkeit anging, konnte ich allerdings sehr viel von den jüngeren Mitgliedern unserer Gesellschaft lernen. Für einjährige Krippenkinder fühlt sich der morgendliche Abschied von der Mutter oft noch endgültig an. Schon wenn sie in ein anderes Zimmer geht, ist die Mama plötzlich weg. Auf manche Kinder wirkt das derart bedrohlich, dass sie in Tränen

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