Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
ausbrechen. In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres wächst allmählich das Gefühl dafür, ob die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter eher lang oder kurz ist, und die Kinder müssen noch einige Jahre älter werden, bis sie merken, ob überhaupt Stunden vergangen sind und wie viele.
Selbst in dem Alter, in dem Kinder in die Schule kommen, wissen sie gemeinhin nicht, welche Tageszeit herrscht, ob es Montag oder Freitag ist, April oder September, Sommer oder Winter. Meine Tochter Mücke fragt oft mit Blick zum Himmel hinauf: Ist das die Morgensonne oder die Abendsonne? Sie kann mit ihren acht Jahren in den Ferien das Frühstück nur dadurch von Mittag- oder Abendessen unterscheiden, dass es morgens |120| meist etwas Süßes gibt wie Müsli oder Corn Flakes. Wenn die Frage nach der Sonne mit Abendsonne beantwortet wird, fängt sie manchmal an zu weinen, weil sie traurig ist, dass der Tag schon zu Ende geht: »Jetzt haben wir für so viele Sachen keine Zeit mehr.«
Bei der Einordnung von kürzeren Zeitintervallen ist konkrete Erfahrung wichtig. Mit: »In einer halben Stunde gehen wir los«, können Kinder in den ersten Grundschuljahren wenig anfangen. Wenn ich Mücke sage, dass wir losgehen, sobald ich fertig gespült habe, dann weiß sie Bescheid. Wie lange es dauert, bis alle Tassen und Teller abgespült, das Besteck gewaschen, abgetrocknet und wieder in der Schublade gelandet ist, hat sie mehrfach erfahren.
Besonders schwer tat sie sich mit fest vereinbarten Terminen. Ein halbes Jahr lang hatte sie mich bearbeitet, sie würde unendlich gern Flöte spielen. Alle ihre Freundinnen würden mindestens ein Instrument erlernen, sie wolle das auch. Ich habe bei Gott nichts dagegen, dass mein Kind musiziert, aber ich erinnere mich aus meiner Kindheit noch sehr genau daran, was das im Einzelnen bedeutete: Einmal die Woche, wenn nicht öfter, musste ich zur Musikstunde fahren, anschließend nach Hause zurück und vor allem: Üben, üben, üben. Und wer hatte die meiste Arbeit damit? Meine Mutter. Sie musste mich hinbringen, abholen und fortwährend zu den Übungsstunden ermahnen. Das wollte ich mir, inzwischen selbst Mutter, eigentlich gern ersparen.
Aber ich gab Mückes Bitten nach, trieb irgendwo eine gebrauchte Blockflöte auf und brachte mein Kind mit etwas Glück bei einem Flötenlehrer unter, der seinen Unterricht sogar in der Schule erteilte, in die meine Kinder |121| gingen. Mücke musste also an diesem Tag nur vom Hort aus zwei Stockwerke hinauflaufen, und schon konnte die Stunde beginnen. Wir vereinbarten einen Termin, und fortan durfte mein Kind dienstags um 14 Uhr Flöte spielen lernen.
Nur – wer sollte sie daran erinnern? Mücke selbst dachte jedenfalls nicht daran. Kurze Zeit nachdem die Flötenstunden vereinbart worden waren, hatte sie auch schon die erste Stunde verpasst. Nachmittags holte ich sie von der Schule ab, fragte fröhlich, wie denn der Musikunterricht gewesen sei, mein Tochterkind aber machte ein langes Gesicht. Sie hatte die Stunde vergessen, vertrieft, mit den anderen Kindern gespielt und einfach keine Sekunde lang daran gedacht. Ich hätte heulen können. Der nette Lehrer, die große Mühe, das viele Geld – alles vergeblich!
Der nächste Dienstag nahte: Wir sprachen morgens beim Frühstück über den Flötenunterricht, ich malte Mücke mit dickem schwarzen Filzstift in Versalien ein FLÖTE auf den rechten Handrücken, drückte ihr feierlich die Instrumententasche in die Hand, schaute ihr beim Abschied tief in die Augen und erinnerte sie noch einmal an die Stunde. Doch ich wusste genau: Bis zum Nachmittag hatte sie das längst vergessen. Am liebsten hätte ich Mücke einen Wecker um den Hals gehängt, der um 13.55 Uhr laut und vernehmlich bimmelte.
Ich klagte Mückes Horterzieherin mein Leid, und sie schlug vor, Mücke eine Uhr zu schenken und darauf Zeiger zu kleben, die genau auf 14 Uhr zeigen. Die Idee war gut, aber ich wusste, dass bei Mücke auch das nichts helfen würde. Mein Kind fand es sicher todschick, eine eigene Armbanduhr zu tragen, aber sie prüfte zu gegebener |122| Zeit anhand dieses eleganten Accessoires sicher nicht nach, ob ihre Flötenstunde bald beginnen würde. Es half alles nichts: Wenn wir ganz sicher sein wollten, dass sie ihre Stunde nicht verpasste, musste einer von uns beiden dienstags, kurz vor 14 Uhr, in die Schule fahren und Mücke daran erinnern.
Selbst Jugendlichen fällt es noch schwer, Zeitabläufe korrekt einzuschätzen. Sie haben zwar längst
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