Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
gelernt, die Uhr zu lesen, sie ahnen, wie lang ihr Schulweg dauert, und wissen, was der Unterschied zwischen Ferien- und Unterrichtszeit ist. Aber wie lange einzelne Prozesse dauern können, die neu für sie sind, und wie viel Mehrzeit man dafür einplanen muss, wissen sie immer noch nicht. Nicht zuletzt kommt mit der Pubertät ein drastischer Hormonwandel auf sie zu, der insbesondere männlichen Heranwachsenden generelle Verlangsamung beschert.
Nicht umsonst haben die meisten von uns die eigene Kindheit in ihrer Erinnerung als einen Lebensabschnitt abgespeichert, in dem wir unendlich viel Zeit zur Verfügung und eigentlich fast nichts zu tun hatten. Unsere Erinnerungen sind korrekt, aber wir hatten damals völlig andere Maßstäbe. Mit unserem Zeitmanagement im Erwachsenenleben heute ist das nicht zu vergleichen.
Peu à peu müssen sich Kinder an ihre, unsere und allgemeingültige Zeitpläne gewöhnen. Wir müssen sie in der Schulzeit morgens rechtzeitig aus dem Bett rütteln, ihnen vermitteln, dass sie pünktlich im Klassenraum zu sitzen haben und dass auch die Ballettlehrerin oder der Fußballtrainer nachmittags nicht ewig auf sie warten. Wir müssen ihre Gewohnheiten Halbjahr für Halbjahr neu an die Sommer- oder Winterzeit anpassen, sie an Hausaufgaben und das Üben ihres Instrumentes erinnern, |123| sie steuern, gängeln, ermahnen, wir müssen zeitlich den Überblick bewahren, denn sie selbst sind dazu nicht in der Lage.
Das macht keinen Spaß, schließlich kann man ihnen nachfühlen, wie schwer das frühe Aufstehen fällt und wie unangenehm ein Weg rasch werden kann, der kein Spaziergang, sondern an einen festen Termin gebunden ist – ganz abgesehen davon, dass wir selbst auch nicht immer in der Stimmung sind, derlei souverän und liebevoll zu meistern. Aber es wäre unfair, ihnen dabei nicht zu helfen. Wir müssen ihnen die Chance geben, das zu lernen.
Gleichzeitig dürfen wir nicht den gleichen Druck auf sie ausüben, den wir aus unserem Erwachsenen- und Berufsleben kennen. Es ist wichtig, dass ihr System nicht mit unserer Hektik kollidiert. Ich werde nie vergessen, wie erschrocken ich war, als Murkel mit knapp sechs Jahren zum ersten Mal das Wort Stress benutzte. Die Klassenfahrt stand an, Montag sollte es losgehen, Freitag wieder zurück, und ich half ihm, seinen Koffer zu packen. Hausschuhe, Socken, Schlafanzug – alles musste in einigermaßen sinnvoller Ordnung hineingestapelt werden. Jetzt konnte ich ihn dabei noch unterstützen, doch auf der Rückfahrt musste er das allein schaffen. Ich fragte ihn, ob er sich das zutraut, und er meinte: »Na klar, ich fang schon am Donnerstag damit an. Wer weiß, was am Freitag noch alles zu tun ist. Nicht, dass ich am Schluss in Stress gerate.«
Ich schaute meinen Sohn nachdenklich an. Woher kannte er dieses Wort? Ist es nicht eine der schönsten Eigenschaften von Kindern, dass sie gerade nicht in Stress geraten können? Hatten wir ihn zu sehr unter Druck gesetzt?
|124| In der Tat komme ich gern pünktlich und erledige meine Angelegenheiten möglichst nicht auf den letzten Drücker. Wenn ich unter Druck stehe, werde ich schnell hektisch und ungeduldig. Meine Kinder bekommen das mit und bemühen sich zu kooperieren, soweit sie können. Vielleicht hatte ich es damit ein wenig übertrieben.
Meine Kinder gehen auf eine Schule mit Reformcharakter. Hier lässt man den Schülern ausdrücklich in ihrer Entwicklung Zeit und übt keinen Leistungsdruck aus. Wenn ich aus meinem gewohnten Berufsalltag auf das Schulgelände komme, fühle ich mich jedes Mal, als hätte ich eine Vollbremsung gemacht. Schon auf dem Hof herrscht ein vollkommen anderes Tempo. In einem Sandkasten, der so weitläufig ist wie ein Meeresstrand, sitzen einige Kinder und bauen hingebungsvoll Gärten mit Zäunen und Wällen, hohen Türmen und tiefen Schächten. Im Sommer drehen sie zusätzlich einen Hahn auf, der sich auf dem Schulgelände befindet, und lassen Wasser durch ihr kompliziertes Tunnelsystem fließen. In einer anderen Ecke steht eine selbstgebaute Hütte aus Stöcken und Laub. Tief duckt sie sich unter die Bäume. Einige Mädchen haben es sich auf bunten Tüchern davor bequem gemacht und sind in ein Rollenspiel vertieft.
Drinnen in den Horträumen und -gängen herrscht Trubel, die Kinder spielen, rangeln oder unterhalten sich laut, doch dahinter verbirgt sich ein tiefer, innerer Frieden. Ein Junge hat sich eine Kiste Lego geholt und setzt sorgfältig einen Baustein auf den anderen. Die
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