Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
geschwunden zu sein. Erschöpfte erholen sich nicht, sondern werfen hochdosierte Vitaminpräparate ein, Unsichere greifen zu Antidepressiva, die Unkonzentrierten zu Ritalin.
Diese Praxis ist auch dort zunehmend Normalität geworden, wo eigentlich gar keine Krankheiten vorliegen: Gesunde Menschen, ob junge Studenten vor dem Examen oder Lkw-Fahrer vor der Nachtschicht, ob Banker auf dem Börsenparkett oder Bauarbeiter auf den Großbaustellen, sie alle versuchen, sich mit Hilfe von Medikamenten kurzzeitig einen Vorteil zu verschaffen. Studenten können damit länger pauken und sind in der Prüfung trotzdem wach. Berufsfahrer brauchen keine Pause einzulegen und können durchfahren. Sie setzen kurzerhand neue Maßstäbe und vergessen darüber, dass ihre Leistung daran in Zukunft gemessen werden wird. Colin Beavan schreibt dazu in seinem Buch
Barfuß in Manhattan
: »Mittlerweile nehmen so viele Leute Prozac, dass unverarbeitete Reste dieses Beruhigungsmittels, die mit dem Urin ausgeschieden werden, im Trinkwasser nachgewiesen werden können. So viele Leute sind deprimiert, dass das Prozac in ihrem Urin unser Wasser verseucht!«
Dabei sei, wie Beavan anführt, keineswegs immer nur körperliche Veranlagung der Grund für die hohe Depressionsrate in der Gesellschaft. Auch der allgegenwärtige Stress trage zu Schwermut und Melancholie bei. Je höher der Erwartungsdruck, desto schneller stellt sich das Gefühl |158| ein, den Anforderungen des Alltags nicht genügen zu können. Auf das einmalige Hoch folgt immer auch ein drastisches Tief. Dabei geht es indirekt auch um Geschwindigkeit. Es geht darum, möglichst rasch wieder auf den Damm zu kommen und in kürzester Zeit die eine intellektuelle oder wie auch immer geartete Hochleistung zu erbringen. Wer leidet, ist selbst schuld, wer sich mit Traurigkeit oder mangelhafter Konzentration herumschlägt, ist dumm. Wer heute etwas leisten möchte, muss es schnell schaffen und sich schnell zu helfen wissen. Im täglichen Wettkampf kann nur noch der bestehen, der zu medikamentöser Unterstützung greift.
Am vierten Tag spürte ich allmählich, wie meine Energie zurückkehrte. Das morgendliche Aufstehen fiel mir nicht mehr schwer. Ich konnte mich auch wieder besser bewegen. Mein Gemüt hellte sich auf. Es hatte also doch genützt. Ich war wieder gesund. Früher hätte ich jede Menge Aspirin eingeworfen und versucht, mich mit Ach und Krach auf den Beinen zu halten. Jetzt hatte ich drei Tage im Bett gelegen, hatte wieder einmal richtig ausgeschlafen und über das Leben nachgedacht. Statt drei unangenehmen Tagen voller schlechter Laune und Unmut war mir eine Auszeit vergönnt worden.
Am fünften Tag war ich wieder vollkommen hergestellt. Ich bezog das Bett neu, warf die alte Wäsche in die Waschmaschine und putzte erst einmal die ganze Wohnung. Ich fühlte mich, als sei ich gar nicht krank gewesen. Es war himmlisch.
|159| 9. VON ZWANZIG AUF ZEHN:
ZWEIFEL
Aufgrund meines Selbstversuches bin ich so langsam geworden, dass sich an der Kasse hinter mir eine lange Schlange bildet. Ich habe das Gefühl, den Anschluss zu verlieren. Ist meine neue Gemächlichkeit überhaupt praxistauglich?
|161| In den Büchern, die ich auf meinem Krankenlager studiert hatte, fand ich vielerlei Hinweise darauf, wie subjektiv und damit relativ die Wahrnehmung von Zeit und Geschwindigkeit ist. So erscheint einem beispielsweise die zweite Lebenshälfte im Vergleich zur ersten deutlich kürzer. Die Angst vor dem Ende des Lebens ist so groß, dass es sich ab einem bestimmten Alter rascher zu nähern scheint als zuvor.
Ich dachte darüber nach, dass ich auf Reisen im Ausland öfter den Eindruck hatte, mich nicht nur in einem fremden Land, sondern auch in einer anderen Zeit zu befinden. Jeder hat das schon erlebt: Fährt er in ein südliches Land wie Spanien, Italien oder Marokko, fällt ihm sofort der Schlenderschritt auf, mit dem sich die Menschen dort durch den Tag bewegen. Besucht er Großstädte wie New York oder London, muss er Sorge haben, von den anderen Passanten überrannt zu werden. Das liegt an dem unterschiedlichen Lebens- und Arbeitstempo, das in dem jeweiligen Land herrscht. Entscheidend für die Wahrnehmung ist dabei nicht die reale Uhrzeit, sondern das »gefühlte« Tempo, die sogenannte Ereigniszeit. Unterscheidet sie sich für einen Gast stark von dem, was er aus seinem Herkunftsland gewohnt ist, kann das zu nachhaltigen Missverständnissen, sogar zu Konflikten führen.
Kaum einer hat sich
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