Von jetzt auf gleich
bin sicher, dass viele Menschen durchs Leben gehen und sich nach ihren Grenzen fragen. Wie viele Demütigungen hält man aus? An welchem Punkt schluckt man einfach nicht mehr alles und will nur noch auswandern und eine neue Identität annehmen? Ist das dann der Punkt, an dem man Amnesie vortäuscht? Haarsträubender Gedanke. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich die Treppe hinunterrannte, aus der Tür hinaus auf die Straße, um frische Luft zu schnappen. Weil ich wissen wollte, ob Dirk mir folgte, drehte ich mich noch einmal um, aber er tat es nicht. Ich ließ es nicht zu, mich darüber zu wundern.
Als ich außer Atem geriet, drosselte ich mein Tempo und ging ziellos weiter durch die Dunkelheit.
Ich lief fast die ganze Nacht herum. Ich weiß, es hört sich gefährlich und auch langweilig an – schließlich war das hier New York, und es war kalt und so weiter – aber jeder, der hier lebt, weiß, dass New York im Vergleich zu anderen Großstädten oder Städten überhaupt verdammt sicher ist. Erstens ist immer jemand unterwegs, deshalb ist es viel sicherer als irgendeine einsame Straße in einem Vorort. Zweitens sind die meisten Straßen gut beleuchtet, und drittens sind ganz viele Läden rund um die Uhr geöffnet, in denen man sich aufwärmen kann.
Ich lächelte Passanten an – Leute, die rauchend vor Bars standen, Pärchen bei ihren Dates, die Obdachlosen –, und es war ein schönes Gefühl, anonym zu sein. Zu wissen, dass ich die Leute, an denen ich vorbeiging, nicht kannte, und dass sie auch nicht wussten, wer ich war. Es war anstrengend, einen Haufen Leute um sich zu haben, die mich kannten, und nicht zu wissen, wer sie waren, und ich fing an, mich darüber zu ärgern. Ich wollte irgendjemanden dafür verantwortlich machen und bitten, mich einfach nur wieder in Ordnung zu bringen. Aber wen? Und wie?
Als ich nicht mehr laufen konnte, ging ich in eine schmuddelige Bar, die noch nicht mal ein Schild draußen hatte. Es gab eine Jukebox mit Countrymusik, Hard Rock und ein bisschen Punk. Ich blickte auf die Titel und fragte mich, warum ich fast jeden Song erkannte, mich aber nicht an meine eigene Mutter erinnern konnte.
Die Bar war ziemlich leer. Da war ein älterer Typ mit einer Schlägermütze und zwei Mädchen, die so aufgestylt waren, als glaubten sie, das wäre die Nacht, in der der Mann ihrer Träume auftauchen würde – oder zumindest einer mit genug Geld für ein paar Martinis und einen Salat. Ich beobachtete, wie sie sich jedes Mal zur Tür umdrehten, sobald jemand hereinkam – was nicht wirklich oft passierte. Der hoffnungsvolle Blick wich einem Ausdruck der Enttäuschung, wenn
er
es nicht war.
Ich machte es mir auf dem hintersten Hocker bequem. Die Barfrau, sEra, hatte ein Bauchnabelpiercing und ein Tattoo von einer nackten Frau, die auf einem Hamburgerbrötchen lag, auf ihrem Arm. Sie erzählte mir, dass sie ihren Namen von Sara zu sEra geändert hatte, als sie noch in der Highschool war, nachdem sie
Leaving Las Vegas
gesehen hatte. Sie fand das irgendwie cooler. Alle wollten einzigartig sein – auch wenn sie ganz offensichtlich jemanden kopierten, um das zu erreichen.
Gegen drei Uhr morgens waren sEra und ich ziemlich dicht. Ich erzählte ihr, dass ich mich an demselben Abend verlobt hatte und dass ich nicht sicher war, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich erzählte ihr von der Amnesie – auch von dem betrügerischen Teil, den ich vergessen hatte – und dass ich meine Erinnerung immer noch nicht zurückhatte. Außerdem erzählte ich ihr von der Party, die sie für mich veranstaltet hatten, und die, soviel ich wusste, immer noch lief, aber es war so verflucht traurig, dass ich aufhörte. Den Teil über Esperanza und die Scheiß-Geschichte ließ ich aus. Und den Schokoladenkuchen. Niemand musste das hören. Auch ich wünschte mir, es nie gehört zu haben.
sEra war eine gute Zuhörerin. Eigentlich gehörte das ja auch zu ihrem Job – aber es schien, als sei sie dafür wie geschaffen. Sie hatte alle möglichen guten Ratschläge für mich und eine interessante Ansicht über alles, was ich erzählte. Über Identität und meinen Mangel an derselben sagte sie: »Niemand weiß so genau, wer er wirklich ist. Die meisten Leute stapfen so durchs Leben und warten darauf, dass etwas passiert. Der wahre Charakter zeigt sich erst, wenn Menschen auf die Probe gestellt werden – in Extremsituationen. Und die meisten Leute versuchen ihr ganzes Leben lang, solchen Situationen
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