Von jetzt auf gleich
Lydia war wirklich ein abscheuliches Biest.
»Warum hast du mich nicht angerufen?«
»Ich bin gerade erst gekommen und hab deine ganzen Nachrichten gelesen«, sagte ich. »Ich wollte keine übersehen. Waren’s mehr als drei? Ich habe nur drei gesehen.«
»Nein. Das waren alle. Kannst du bitte zu mir kommen?« Übrigens war das alles ziemlich überflüssig. Erstens: Ihr Büro war ungefähr einen halben Meter von meinem Schreibtisch entfernt. Zweitens: Ich konnte sie genauso gut ohne den Hörer an meinem Ohr hören. Und drittens: Warum konnte sie mir nicht einfach am Telefon sagen, was sie von mir wollte?
Ich stand auf und ging die zwei Schritte in ihr Büro. Ihre Lippen waren zu einer winzigen, faltigen harten Form gespitzt, sodass ich bei ihrem Anblick beinahe lachen musste.
»Hi, guten Morgen«, sagte ich. Sie schaute auf ihre Uhr und dann auf mich. »Gandhi sagte, dass Verspätung ein Akt des Terrorismus ist.«
»Pardon?«
»Du bist zu spät«, sagte sie. »Das ist terroristisch.« Ich war drauf und dran in Lachen auszubrechen, aber ich tat es nicht. Wieder einmal fragte ich mich, wie ich es früher geschafft hatte, auf diesen Mist nicht zu reagieren.
»Bist du sicher, dass er das so gesagt hat? Und bist du sicher, dass
terroristisch
das richtige Wort ist? Ich meine, ich entschuldige mich dafür, dass ich zu spät war«, sagte ich, »aber das ist doch ein bisschen extrem, findest du nicht.«
»Ja, ich bin sicher«, sagte sie, während sie Gandhi googelte. Dann drehte sie fast gewaltsam ihren Monitor zu mir und las laut: »Pünktlichkeit ist Gewaltlosigkeit. Verspätung ist Diebstahl der Zeit eines anderen und tut demjenigen deshalb Gewalt an.«
Ich stand da und schaute sie einen Moment lang an. Ich war nicht sicher, wie ich auf diesen plötzlichen Wutanfall reagieren sollte. »Nun, es tut mir furchtbar leid. In Zukunft werde ich es deutlich machen, wenn ich Gewalt
anwende
.«
»Gut«, sagte sie und hakte das Thema ab. »Also ich nehme an, du bist das alles durchgegangen?« Lydia zog ihre Augenbrauen hoch. Ich meine auch.
»Ja, sicher.«
»Gut«, seufzte sie. »Ich schlage mich schon die ganze Zeit damit herum. Die Inspiration ist einfach noch nicht gekommen …« Mit einem gequälten Lächeln sah sie schnell zu mir herauf. »Witzig. Du wolltest immer wissen, wie es bei den Kreativen so läuft. Kannst du dich daran erinnern, dass du so was auch mal versucht hast?«, fragte sie mich und gab beinahe zu, dass ich ihren Job gemacht hatte, sagte es aber nicht. Sie versuchte mir Honig um den Bart zu schmieren. Ein Kompliment, bevor sie mich bat, wieder mal ihren Job zu machen. »Es ist für VibraLens. Ich bin unsicher bei meinen Ideen, vielleicht kannst du es besser machen?«
»Sicher«, sagte ich. »Lass hören.«
»Okay. Was ich habe, ist ›VibraLens … Die Augen haben es.‹« Sie sah mich an, um meine Reaktion abzuschätzen.
»Sehr … klar«, sagte ich.
»Okay«, fuhr sie leicht beunruhigt fort, »dann habe ich ›VibraLens. Die Augen sind der Preis.‹ Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber das ist eine Interpretation von ›Keep your eyes
on
the prize‹, was eine allgemein bekannte Redewendung ist.«
Ja, es war allgemein bekannt. Eine von Martin Luther Kings bekannteren Aussagen und völlig ungeeignet für farbige Kontaktlinsen. Anscheinend war heute irgendwie der Tag der großen geistigen Führer … Gandhi … MLK … Vermutlich würden wir nach dem Mittagessen Franz von Assisi für Vogelfutter und Jesus bei einer neuen Marke von Wasserskiern zu Wort kommen lassen.
»Hmmm«, sagte ich. Und dann gab es eine lange Pause. Normalerweise hätte ich mich an dieser Stelle mit all meinen Ideen eingeklinkt. Ich hätte ihre korrigiert, ohne dass es den Anschein gehabt hätte. Ich hätte sie groß herausgebracht. Lydia wartete darauf. Sie lehnte sich sogar nach vorne, zog hoffnungsvoll eine Augenbraue hoch. Ja, ich hatte eine Menge guter Ideen. Und wenn sie dachte, ich würde ihr die einfach so verraten, war sie absolut auf dem Holzweg. Diese Tage sind vorbei, Baby. Aber ich wartete noch eine Minute länger, bloß damit es so aussah, als würde ich noch mit etwas rausrücken. Kurz bevor sie vor Ungeduld zu platzen drohte, sprach ich frisch von der Leber weg: »Die klingen richtig gut! Aber ich weiß nicht, ob ich das beurteilen kann.« Sie rauchte vor Wut. Sicher wusste sie, dass ihre Ideen nicht gut waren, und sie brauchte dringend meine Hilfe. Aber was konnte sie schon sagen?
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