Von Kamen nach Corleone
automatisch, ohne jeden bösen Willen, man werde von diesem System aufgesaugt, ohne ihm entkommen zu können. Die einzige Möglichkeit sei, den ganzen Mut zusammenzunehmen und abzuhauen. Schließlich hätten seine Söhne keinerlei Schuld und keine Verantwortung für das, was geschehen sei. Er sei aber dafür verantwortlich, dass sie in einer besseren Welt aufwachsen. Beide Söhne hätten begriffen,dass Bildung der einzige Weg in eine bessere Zukunft sei. Aber dennoch sei ihr Leben kompliziert. Es sei schwer gewesen, ihnen zu erklären, dass sie ein Leben unter fremdem Namen führen müssten. Schon als die Söhne in einen Fußballclub eintreten wollten, sei das ein Problem gewesen.
Seine Söhne hätten ihn nie gefragt, wie es dazu gekommen sei, dass er ein Mafioso wurde, sagte Emanuele Brusca und machte eine lange Pause. Aber manchmal sei es härter, wenn jemand schweigt, als wenn er mit dem Finger auf dich zeigt, fügte er hinzu. So versuchten sie ein möglichst normales Leben zu führen. Und den Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen.
Er blickte wieder zum Fenster und dann zu mir. Ich spürte seine Ungeduld. Vom Zimmer nebenan hörte ich die Polizisten flüstern, und ab und zu rauschte die Wasserspülung wieder über unseren Köpfen hinweg wie die Niagarafälle. Als ich ihn fragte, ob seine Frau seine Entscheidung sofort akzeptiert habe, unter fremdem Namen im Zeugenschutzprogramm zu leben, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er war nicht mehr ungeduldig, er sah aus wie jemand, der weiß, dass er unter einer unheilbaren Krankheit leidet, einer Krankheit, die ihn langsam, aber unausweichlich auffrisst.
Ja, sagte er dann gedehnt, seine Frau habe seine Entscheidung sofort gebilligt. Er machte eine Pause, als wägte er ab, ob er weiter sprechen, sich vor einer Fremden weiter entblößen sollte. Aber dann gab er sich einen Ruck und sagte, dass die größte Enttäuschung seiner Frau jedoch eine andere gewesen sei. Das war, als sie erfahren musste, dass er der Mafia die Treue geschworen hatte. Es sei für sie Verrat gewesen. Auch wenn die Gesetze der Mafia ihm verboten, ihr zu sagen: »Man hat mich aufgenommen.« Aberdas sei ihr egal gewesen. Für sie sei es Verrat gewesen, an ihrer Liebe, an ihrer Verbindung als Mann und Frau. Er wisse nicht, ob sie ihm verziehen habe oder ob sie ihm je verzeihen werde.
Seine Frau habe sehr viel gelitten, fügte er hinzu. Sie habe Nervenzusammenbrüche gehabt, Depressionen und sei in Therapie gewesen. Und sie sei immer noch nicht geheilt. Plötzlich habe sie vor diesem Abgrund gestanden. Sie habe immer eine hohe Meinung von ihm gehabt, ihr Vertrauen in ihn sei grenzenlos gewesen, unbeschreiblich, absolut. Heute habe sie Zweifel. Wegen dieser Erfahrung. Wegen der Lüge. Wie solle sie sich danach noch auf etwas verlassen können?
»Heute vertraut sie nur noch auf Gott«, sagte er, »viel mehr als auf mich.«
Dann stand er auf, knöpfte sich sein Jackett zu und verabschiedete sich von mir. Als er den Stuhl zurückschob, knarrte dieser leicht, was auf die im Nebenzimmer wartenden Polizisten offenbar wie ein Signal wirkte. Sofort umringten sie ihn und stürmten mit ihm wieder durch den Hausflur nach unten.
Ich sah ihm nach und bemerkte, dass Emanuele Bruscas Rücken bereits leicht gebeugt war. Noch lange dachte ich daran, dass die größte Strafe für ihn der Blick seiner Frau ist. Dass er einer anderen die Treue geschworen hat, wird sie ihm nie verzeihen. Auch wenn es keine Frau, sondern die Mafia war.
12
Das Thermometer zeigt sechzehn Grad Außentemperatur an. Was einen eindeutigen Fortschritt bedeutet. Bald werde ich offen fahren können. Und das an Allerheiligen. Einem Feiertag, an dem ganz Italien unterwegs ist, um die Gräber der Verwandten zu besuchen und dort ewige Lichter zu entzünden. Ewige Lichter, die selbst an dieser Tankstelle kurz vor Caserta verkauft werden. Während der Tankwart den Spider betankt, wiege ich eine der Grableuchten in der Hand. Sie sieht genau wie jene aus, die meine Mutter und ich immer an Allerheiligen auf dem Grab meines Vaters aufstellten.
Um in die Bar der Raststätte zu gelangen, muss ich das typische italienische Autogrill-Labyrinth durchqueren: Raststätten, die man nur über einen speziellen Parcours betreten und auch wieder verlassen kann, einen Parcours, in dessen Verlauf Menschen wie im Drogenrausch CDs mit Liedern von Adriano Celentano, Familienpackungen Tempotaschentücher, eingeschweißten Pecorinokäse mit geringem
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