Von Kamen nach Corleone
der Schulzeit, meine Freundinist eine sehr erfolgreiche Werberin und entwickelte Kampagnen für Colgate und Calvados, während ich mich für die Mafia interessierte. Was sie für eine Überspanntheit meinerseits hält. Wie ein Hang zu großblumigen Kleidern. Oder zu übergroßen Fingerringen.
»Ich höre«, sagte meine Freundin.
»Ja«, sagte ich. Und bemerkte einen Mann, der mir durch den Bahnhof gefolgt war. Er trug eine Jeans und eine schillernde, wattierte Jacke, in der er wie in einem Insektenpanzer steckte. Die Haare waren mit Gel zu kleinen Zacken gekämmt. Ich blieb vor der Treppe stehen, die zu dem Bahnsteig führte, auf dem mein Zug abfahren sollte. Der Mann ging weiter.
Während ich den Mann beobachtete, erzählte ich meiner Freundin, wie die Lesung am Abend zuvor verlaufen war, ich schilderte die Szene mit der Gerichtsvollzieherin, die in der Dunkelheit vor der Buchhandlung auf mich gewartet hatte, um mir die einstweilige Verfügung zu überreichen, die der Erfurter Gastronom Spartaco Pitanti gegen mein Buch erwirkt hatte. Ich erwähnte den Moderator, der mich mit den Worten empfangen hatte, dass er ein guter Freund von Herrn Pitanti sei, der mir umstandslos vorwarf, in meinem Buch Lügen zu verbreiten, und der sich schließlich mir gegenüber damit rühmte, gute Freunde in Neapel zu haben. Ich beschrieb den Rechtsanwalt, der gleich nach meiner Lesung das Wort ergriffen hatte, um rhetorisch kunstvoll zu bestreiten, dass Geldwäsche in Deutschland möglich sei.
Ich erzählte von dem ehemaligen Erfurter Bürgermeister Manfred Ruge, der auch im Publikum gesessen hatte und mich umstandslos beschimpft hatte: als geistige Urheberin einer Fernsehdokumentation über die Mafia in Deutschland, in der man ihn dazu gebracht habe, Sätze zu sagen,die er so nicht gesagt haben wollte. Ich erwähnte die Italiener, die ganz hinten in der Ecke der Buchhandlung gesessen hatten und mich schließlich mangels Deutschkenntnissen auf Italienisch als Lügnerin und Mafiosa beschimpft hatten. Ich schilderte die Schreckstarre, in der die anderen Zuhörer lange Zeit gefangen waren, bis sie schließlich an die Italiener gewandt riefen: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von ihr?« Und ich beschrieb den Herrn mit der Fliege, der aufgestanden war und eine lange Verteidigungsrede zu Gunsten jener Personen meines Mafiabuches gehalten hatten, die mich verklagt hatten – der Duisburger Hotelier Antonio Pelle und der Erfurter Gastronom Spartaco Pitanti, die er beide offenbar sehr gut kannte.
Ich hätte die Ehre dieser beiden erfolgreichen italienischen Unternehmer beschmutzt, sagte der Mann mit der Fliege – bis er eine Pause machte und sein leidenschaftliches Plädoyer mit dem Satz beendete: »Ich bewundere Ihren Mut, ich bewundere sehr Ihren Mut, ich bewundere ganz außerordentlich Ihren Mut.«
»Hm«, sagte meine Freundin.
»Man hat mich schon oft zu meinem Mut beglückwünscht«, sagte ich. »Aber dieses Mal war es anders.« Plötzlich wurde mir klar, dass meine Freundin die Bedrohung keineswegs verstanden hatte. Der Satz, hinter dem sich eine elegant gedrechselte Drohung verbarg, war für sie einfach nur ein Satz.
Über mir fuhr gerade ein Zug ein. Die Decke schien zu beben. Der Mann mit der wattierten Jacke lief jetzt in meine Richtung. Aber dann ging er an mir vorbei. Ohne sich umzudrehen.
»Mir war, als sei alles nach einer sorgfältig studierten Dramaturgie abgelaufen«, sagte ich. »Als hätte jeder den ihm zugewiesenen Part gespielt, der Moderator, der Rechtsanwalt,bis hin zu jenen Italienern, die mich nur auf Italienisch beschimpfen konnten, die aber dennoch für die Inszenierung unverzichtbar waren.«
Langsam stieg ich die Treppen zum Gleis hoch. Die Hand, in der ich mein Telefon hielt, war so kalt geworden, dass ich fast kein Gefühl mehr in den Fingern verspürte. Vor mir ging ein Mann ohne Gepäck. Ich bemerkte, wie er sich kurz nach mir umdrehte. Als er nach hinten an seinen Hosenbund fasste und nach etwas tastete, setzte mein Herz aus. Aber dann zog der Mann ein Handy aus seiner Gesäßtasche.
»Ach, weißt du«, sagte meine Freundin, »die Mafia interessiert in Deutschland niemanden. Das muss ich dir jetzt mal sagen. Ich lese diese Artikel über die Mafia nur, weil du sie geschrieben hast. Als Freundschaftsdienst für dich.«
Langsam schließt sich das Fenster des Geländewagens wieder. Mein Herz schlägt wieder ruhig. Ich hätte nie gedacht, dass ein sich öffnendes Autofenster eine Bedeutung für mich haben
Weitere Kostenlose Bücher