Von Kamen nach Corleone
könnte. Oder jener Augenblick, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet. Oder ein Schatten am Ende eines langen Ganges. Es ist, als hätte jemand Gift in mein Herz geträufelt. Es sind nur ein paar Tropfen, winzige.
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Der Geländewagen fährt hochmütig an mir vorbei. In einem Punkt muss ich meinem Onkel recht geben: Ein Diesel zieht nicht. Jedenfalls nicht beim Anfahren, wie ich es von einem Alfa Spider erwarten würde, der über vier Auspuffrohre verfügt und über Felgen, die aussehen wie Preziosen. Aber gut, Paolo Conte singt »Via con me« , was will ich mehr. Komm weg mit mir, weg von den Männern, die dir gefallen haben, nichts verbindet dich mehr mit diesen Orten, nicht mal diese blauen Blumen.
Die nächste Lesung nach dem Vorfall von Erfurt fand zwei Tage später in Norddeutschland statt. Weil der Ort der Lesung mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen war, hatte der Verlag ein Auto mit Fahrer gemietet. Diesen Luxus hatte ich einer aufmerksamen Verlagsmitarbeiterin zu verdanken, die berechnet hatte, dass ein Mietwagen mit Fahrer nicht teurer war als ein Mietwagen ohne Fahrer. Der Fahrer holte mich in Hamburg ab. Es war schon dunkel, als er mir die Tür öffnete und mir auffiel, dass sich von seinem Ohr ein winziges Kabel in seinen Kragen ringelte. Wir fuhren am frühen Abend los, die Alster war in Finsternis versunken, umgeben von Lichtern, die sich im Wasser spiegelten, und der Fahrer erzählte, dass er ausgebildeter Personenschützer sei. Und nur nebenbei als Fahrer arbeite.
Ich saß im Fond und blickte auf das kleine geringelte Kabel. Ich wusste nicht, ob das Kabel verbunden war. Und wenn ja, mit wem. Aber selbst, wenn es sich nur um ein Placebo-Kabel gehandelt hat, ein Accessoire, das manche Männer sich anstecken wie ein Vereinsabzeichen, hatte es seinen Zweck erreicht. Es beruhigte mich.
Nach einer Stunde Fahrt kamen wir an. Vor der Buchhandlung stand eine lange Schlange von Wartenden im Dunkel, neben ihnen an der Wand flatterten Plakate im Wind, die auf die Veranstaltung hinwiesen: »Die Nacht der langen Messer«. Außer mir sollten im Laufe des Abends auch Kriminalautoren aus ihren Werken lesen. Die Buchhändlerinnen waren als Sherlock Holmes verkleidet. Sie trugen Tweedmützen mit aufgebundenen Ohrenklappen und Knickerbockerhosen und kauten auf Pfeifen herum. Einige von ihnen standen mit Lupen in der Hand vor dem Eingang der Buchhandlung und nahmen den eintretenden Besuchern Fingerabdrücke ab. Auch die Buchhandlung war dekoriert, mit Handschellen und Blutflecken, mit Kreidezeichnungen auf dem Boden und Fahndungsfotos. Zwei Sherlock-Holmese führten mich auf ein schmales Podest, auf dem ich lesen sollte. Als ich auf das Podest stieg, sah ich, dass zu meinen Füßen ein Luftgewehr lag. Zur Dekoration. Ich rückte meinen Stuhl zurecht und hoffte, dass ich nicht von dem Podest fallen würde, wenn ich aus Versehen den Stuhl zu weit nach hinten schieben würde. Die Zuhörer saßen mit Gläsern voll Rotwein in der Hand bereit, als eine Buchhändlerin einige einführende Worte zur »Nacht der langen Messer« sprach, die mit mir beginnen sollte. Ich blätterte in meinem Buch, in dem ich mit Klebezetteln die Passagen gekennzeichnet hatte, die ich lesen wollte, schenkte mir etwas Mineralwasser ein, und hoffte, dass die Kohlensäure bald verfliegen würde. Die Buchhändlerinrichtete das Licht der Leselampe auf mein Buch, das Publikum wurde von der Dunkelheit geschluckt, und ich begann zu lesen.
In der Buchhandlung herrschte gespannte Stille, während ich las. Ich fragte mich, ob mir am Ende der Lesung wohl wieder die Frage gestellt werden würde, ob ich schon einmal bedroht worden sei. Es scheint manchen Menschen völlig natürlich und selbstverständlich zu sein, dass ein Journalist, der sich mit der Mafia beschäftigt, auch von der Mafia bedroht wird. Als sei die Mafia so etwas Natürliches und Ewiges wie der Wind. Und der Journalist, der die Verbrechen der Mafia beschreibt, einer, der glaubt, sich gegen den Wind stellen zu können.
Tatsächlich bin ich während meiner Mafiarecherchen in Italien zwei Mal bedroht worden. Ein Mal im sizilianischen Corleone und ein Mal im kalabrischen San Luca. In Corleone hatte ein Sohn des Bosses Totò Riina die Fotografin und mich mit dem Auto verfolgt. Und in San Luca wollten die Männer des Clans der Pelle-Romeo uns verprügeln, weil wir Fotos von dem Haus gemacht hatten, in dem sich der Clan verschanzt hatte. Dass man uns dort bedrohte, hatte uns nicht
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