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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reski Petra
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habe die Dame doch nur zu ihrem Mut beglückwünscht.
    »Nein«, sagte ich schließlich zu dem Mann. »Bislang hat man mir noch keine schriftlichen Drohungen geschickt.«
     
    Das Telefon schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Genauer gesagt, die Freisprechanlage. Die ich zum ersten Mal benutze, weshalb ich nach dem richtigen Knopf suchen muss. Bis ich höre, wie meine Mutter aus dem Lautsprecher ruft: »Wo bist du?«
    Sie fragt immer, wo ich sei, wenn sie mich am Handy anruft. Es ist eine Gewohnheit.
    »Irgendwo kurz hinter Duisburg«, sage ich.
    »Na, weit bist du ja noch nicht gekommen«, sagt meine Mutter und macht mich darauf aufmerksam, dass meine Stimme blechern klingt. »Wohin fährst du jetzt genau?«, fragt sie noch mal.
    »Nach Stuttgart«, sage ich und füge ausweichend hinzu: »Aber unterwegs mache ich noch ein paar Interviews.«
    Ich weiß, was meine Mutter denkt. Und meine Mutter weiß, was ich denke.
    Am Tag nach den Drohungen in Erfurt war ich bei ihr zu Besuch. Wie immer waren meine Tanten und Onkel gekommen, um mich zu sehen. Wir saßen am Küchentisch und aßen Wirsingrouladen. Außerhalb der Küche meinerMutter esse ich nie Wirsingrouladen, normalerweise löst der alleinige Geruch von Wirsing bei mir Abscheu aus. Aber die Wirsingrouladen meiner Mutter liebe ich. In ihnen steckt meine Kindheit.
    Immer wieder klingelte mein Telefon. Meine Verwandten hörten, was ich sagte, auch wenn ich nur flüsternd beschrieb, was geschehen war. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wollte meine Familie nicht beunruhigen. Und gleichzeitig wollte ich sie nicht im Unklaren lassen. Ich wollte nicht, dass jemand meine Mutter beim Einkaufen auf dem Wochenmarkt ansprechen und ihr von den Drohungen in Erfurt erzählen würde. Also erzählte ich von der Lesung. Ich versuchte sie meinen Tanten und Onkeln so unbeeindruckt wie möglich zu schildern. Gleichzeitig wollte ich nicht ernster sein als sonst. Ich machte Witze, so wie immer. Aber offenbar gelang es mir nicht. Denn alle sahen mich an, als hätte ich ihnen offenbart, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden.
    Alle schwiegen. Meine Tante nippte an ihrem Rotwein. Meine Cousine fuhr mit der Fingerspitze über den Rand ihres Wasserglases. Mein Onkel tupfte sich mit der Serviette Schweiß von der Stirn. Und meine Mutter fragte mich, ob ich noch eine weitere Wirsingroulade essen wolle.
     
    »Ich rufe dich später wieder an«, sage ich. »Ich muss hier irgendwo abbiegen, aber ich weiß nicht genau, wo.«
    Endlich bin ich dem Gewirr aus Straßenkreuzungen, Unterführungen und Einfädelungsspuren entkommen. Vor mir liegt nichts anderes als schnurgerade Autobahn. Bei deren Anblick ich mich sofort in Gedanken verliere. Autobahnfahren hat eine ähnlich inspirierende Wirkung auf mich wie auf andere Leute ein Waldspaziergang. Ich habe meine besten Ideen, wenn ich mich einfach nur geradeausfortbewege. Leider kann ich beim Autofahren keine Notizen machen, deshalb vergesse ich meine besten Ideen ebenso schnell wieder. Im Prinzip würde das Wunderauto auch ohne mich weiterfahren, man muss nicht mal auf das Gaspedal treten, man kann eine Geschwindigkeit einstellen.
    Inzwischen ist Nachmittag. Die Sonne scheint noch, steht allerdings schon tief. Ich höre, wie Gianna Nannini das Lied Amandoti singt, und ich erwische mich dabei, wie ich laut mitsinge. Wenn ich allein Auto fahre, fällt jede Scham von mir ab. Amarti m’affatica mi svuota dentro, qualcosa che assomiglia a ridere nel pianto, amartim ’affatica mi da malinconia, che vuoi farci è la vita, E’ la vita, la mia.
    Italiener singen immer mit, bei allen Liedern. Darum beneide ich sie. Sie singen mit, textsicher, fehlerfrei, egal ob es Mina ist, Lucio Dalla oder Vasco Rossi. Und während ich è la vita, la mia singe, werde ich geblitzt. Erst in diesem Augenblick fällt mir auf, dass die Höchstgeschwindigkeit auf diesem Stück Autobahn bei hundert Stundenkilometern liegt. Ich fuhr hundertdreißig, ungefähr. Gott sei Dank noch nicht allzu schnell.
    Einige Monate nach dem Ich bewundere Ihren Mut kehrte ich wieder nach Erfurt zurück. Ich wollte die Stadt bei Tageslicht sehen, das, was der BKA-Bericht den »Stützpunkt Erfurt und Umgebung« nennt, einen weiteren Stützpunkt des Clans Pelle-Romeo. Angesteckt von der Goldgräberstimmung, die Mitte der neunziger Jahre in Ostdeutschland herrschte, hatte der Clan Pelle-Romeo beschlossen, sein Glück auch im Osten zu machen. Zwei Statthalter wurden von Duisburg nach

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