Von Kamen nach Corleone
erstaunt. Beide Male waren wir Eindringlinge auf ihrem Terrain gewesen. Mich hatte allerdings überrascht, in Erfurt bedroht zu werden. Offenbar betrachteten die Clans Erfurt als ihr Herrschaftsgebiet. So wie San Luca. Und Corleone.
Die Palmengrenze hatte sich verschoben. Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia hat die Theorie von der Palmengrenze geprägt: Gemäß einer geologischen Theorie verschiebe sich die Verbreitungsgrenze der Palme aufgrund der Erderwärmung jedes Jahr mehrere hundert Meter weiter nach Norden. Palmen würden also in absehbarer Zeit auch an Orten wachsen, an denen sie heute undenkbarseien. Und genau so verhalte es sich mit der Verbreitung der Mafia. Sie existiere bereits in Norditalien, und sie werde weiter nach Norden ziehen. Weil sie kein Gegenstaat sei, sondern sich in den Eingeweiden des Staates einniste. Jetzt wachsen die Palmen auch schon in Duisburg, Stuttgart und in Erfurt.
Am Ende der Lesung hatte ich einen Schluckauf vom Mineralwasser. Und ein Herr fragte mich, ob ich bereits einmal bedroht worden sei. Ich erzählte von den Drohungen in Corleone und in San Luca. Dann auch von der in Erfurt. Aber den Herrn stellte das nicht zufrieden. Er fragte mich, ob ich eine Drohung auch schon mal schriftlich bekommen hätte. Ich hob zu einer Antwort an, ich wollte sagen, dass eine Mafiadrohung ein Blick sein kann, ein Gruß, ein Kompliment. Ein Gift, das ins Herz geträufelt wird. Und nicht nachgewiesen werden kann. Wer die Macht besitzt, hat es nicht nötig, die Stimme zu erheben. Es reicht eine hochgezogene Augenbraue, ein Zungenschnalzen. Nicht zufällig ist die Mafia in Süditalien entstanden, einem Land der Armut, Unfreiheit und der Leibeigenschaft. Wo Araber und Normannen das Gesetz diktierten, spanische Vizekönige und Bourbonen. Die katholische Kirche und die Mafia. Bis zur italienischen Einigung gab es hier keinen Staat. Wer überleben wollte, musste lernen, selbst aus Schweigen Botschaften zu lesen. Bis heute.
Ich wollte sagen, dass sogar Glückwünsche eine Drohung sein können. Der Boss Michele Greco, der am Ende des Maxiprozesses in Palermo zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verkündete dem Gericht feierlich:
Ich möchte an dieser Stelle einen Wunsch aussprechen. Ich wünsche Ihnen Frieden. Ich wünsche Ihnen allen Frieden. Der Frieden ist die Ruhe der Seele unddes Gewissens. Denn für die Aufgabe, die Ihnen bevorsteht, entschuldigen Sie mich bitte, Herr Vorsitzender Richter, ist der innere Frieden fundamental. Dies sind nicht meine Worte, es sind die Worte unseres Herrn. Der zu Moses sagte: ›Wenn du Urteile zu fällen hast, dann muss der höchste innere Frieden herrschen.‹ Das ist die Grundlage von allem. Und ich wünsche Ihnen, Herr Richter, dass dieser innere Frieden Sie für den Rest Ihres Lebens begleiten möge.
Ich wollte sagen, dass die Staatsanwälte, denen der Boss Michele Greco seine lebenslange Haft verdankte, Giovanni Falcone und Paolo Borsellino waren. Ihnen war es gelungen, in dem legendären Maxiprozess 3 60 Mafiabosse zu insgesamt 2665 Jahren Haft zu verurteilen. Zum ersten Mal mussten die Bosse erleben, dass sie es nicht schafften, wie gewohnt den Prozess »zurechtzurücken«, die Urteile in der letzten Instanz aufzuheben. Für die beiden Staatsanwälte bedeutete dieser Sieg ihr Todesurteil: Sie wurden 1992 von der Mafia in die Luft gesprengt. Michele Greco hingegen starb dank seines inneren Friedens im Dezember 2008 eines natürlichen Todes. Am Ende von zweiundzwanzig Jahren Haft. Don Angelo, der Kaplan, der den Boss in Palermo zu Grabe trug, sagte: »Der Herr möge in seinem Reich unseren Vater Michele aufnehmen, weil wir nicht wissen, was mit der Seele dieses Mannes geschah, als er sich an der Schwelle des Todes befand.«
Ich wollte sagen, dass es in Sizilien heißt: Chi vuole capire, capisce . Wer verstehen will, versteht. Das ist das ganze Geheimnis einer Mafiadrohung. Ein italienischer Antimafiastaatsanwalt erzählte mir einmal, wie er nach Palermo gereist war, um einen im Gefängnis von Ucciardoneeinsitzenden Mafiaboss zu verhören. Als der Staatsanwalt vor dem Verhör den Anwalt des Mafiabosses traf, fragte ihn der Anwalt, ob es ihm gut gefalle – im Hotel Ambassador. Mehr nicht.
Der Staatsanwalt hatte verstanden. Er hatte niemandem mitgeteilt, in welchem Hotel er abgestiegen war. Was heißt denn hier Drohung? Ich habe doch nur gefragt, ob sich der Staatsanwalt in seinem Hotel wohlfühlt. Was heißt denn hier Drohung? Ich
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