Von Kamen nach Corleone
»Falsch«, sagte sie. »Die Mafia setzt die Ärmsten immer schon als bewaffneten Arm ein, um sich ihrer zu entledigen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.«
Die Mafiamusik sei keineswegs Ausdruck der kalabrischen Volkskultur. Anders als die junge und erbarmungslose mafiose Subkultur sei die tausendjährige kalabrische Volksmusik weder grausam noch blutrünstig, sagte Francesca. Und hob hervor, dass die Journalisten die Mafiamentalität mit der Kultur der Unterschicht gleichsetzten und damit die Existenz des mafiosen Bürgertums übersähen. »Die Mafia aber verläuft quer durch alle Klassen und Parteien hindurch«, sagte Francesca.
Auch sei die Tarantella keineswegs ein mafioser Tanz, es sei vielmehr der Tanz der sozialen und individuellen Befreiung, kathartisch, religiös, mit Ursprüngen in der Antike. Weil die Mafia immer zur Gesellschaft gehören wollte, hat sie sich unter das Volk gemischt, sie hat seine Werte missbraucht, seine Musik, seine Sprache und seine religiösen Feste vereinnahmt. Die Mafialieder sind nichts anderes als eine vertonte Rechtfertigung der Mafiamorde. »Unsere Volkskultur rechtfertigt keine Morde«, sagte Francesca, »und sie bedauert die Toten. Die Mafia aber nimmt selbst den Toten ihre Würde.«
Mindestens ebenso gefährlich sei es, die Mafia als archaisches Phänomen zu beschreiben, das ausschließlich aus Mord und Brutalität bestehe. »Wenn es so einfach wäre, wären die Mafiosi leicht zu erkennen«, sagte Francesca. Tatsächlich aber versteckten sie sich hinter einer anständigen Arbeit, sie sind Teil der besseren Gesellschaft und der Politik, sie investieren in die internationalen Finanzmärkte.
Es sei ein katastrophaler Fehler zu glauben, dass die Mafia ein kulturelles Phänomen sei, das ausschließlich ein kleines anderes Volk betreffe. Man kann sich nicht gegen ein Übel wehren, wenn man sich von vornherein dagegen immun glaubt, stellte Francesca fest. Dank der Mafiamusik sollten die ausländischen Journalisten in Sicherheit gewiegt werden – und jene Deutschen, die die Nähe der Mafia schon spürten, sollten beruhigt werden, indem die organisierte Kriminalität als Folklorephänomen dargestellt wurde. Die Öffentlichkeit sollte die Mafia nicht als gefährlich betrachten, nicht wie ein Ungeheuer, gegen das man sich wehren muss, sondern wie etwas, mit dem man tanzen, singen und, warum nicht, auch Geschäfte machen kann.
»Die Mafia kann ohne den sozialen Konsens, ohne politische Komplizen nicht existieren«, sagte Francesca und fügte hinzu: »Und kein europäisches Land kann sich freisprechen. Es gibt kein europäisches Gesetz gegen das Eindringen der Mafia in die legale Wirtschaft.«
Don Cataldo liest immer noch, beim Umschlagen berührt seine Nasenspitze fast die Seiten des Buches. Er atmet so tief wie Kinder, die in die Lektüre eines Buches versinken, bis die Welt um sie herum nicht mehr existiert.
»Brava , Francesca«, sagt Don Cataldo schließlich anerkennend und legt das Buch wieder auf seinen Schreibtisch. Draußen auf dem Flur singen die beiden Klavierspielerinnen immer noch ihr Halleluja. Und mir fällt ein, dass man es in Sizilien »Engel machen« nennt, wenn junge Männer in die Mafia aufgenommen werden.
Don Cataldo begleitet mich zu meinem Auto, küsst mich zum Abschied knallend auf beide Wangen und sagt: »Kommen Sie mich wieder besuchen! Und grüßen Sie Francesca von mir! « Dann geht er auf die Straße, hält mit einer gewichtigen Geste die herankommenden Autos an und leitet mich aus der Parkbucht in die Straße. Beim Blick in den Rückspiegel sehe ich, wie mir Don Cataldo so lange nachwinkt, bis ich aus seinem Blickfeld verschwinde.
Wieder auf der Autobahn, denke ich noch lange über Don Cataldo nach. Und über die Mafiamusik. Es mag ein Zufall gewesen sein, dass die Universität Bochum keinen Geringeren als Francesco Sbano, den in Hamburg lebenden Produzenten der Mafiamusik, und Antonio Pelle, den aus San Luca stammenden Betreiber des Duisburger Hotels Landhaus Milser einlud, um über die ’Ndrangheta zu reden. Und »exklusives Videomaterial« zu zeigen, wie es hieß. Der Mafiamusikproduzent Sbano hatte einen Filmüber die »ehrenwerten« Männer gedreht, uomini d’onore, der vermummte Männer in den Wäldern des Aspromontegebirges zeigt, die so kehlig nuscheln, als hätte man ihren Mund mit Teppichklebeband verklebt.
Sie posieren auf nervös tänzelnden Pferden und erklären, dass die Mafia so etwas wie das Weltkulturerbe sei.
Die
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