Von Kamen nach Corleone
Kalabrien lebte und in einer Zeitung vom Erfolg der Lieder der ’Ndrangheta las, Musik der kalabrischen Mafia, die in Deutschland auf drei CDs erschien.
Francesca hat in Deutschland Germanistik studiert, heute lebt sie als Schriftstellerin in Kalabrien. Ihr gewähltes Deutsch klingt wie eine Kostbarkeit. Ich traf sie in Reggio Calabria, in einem der schönen Cafés an der Uferpromenade, wo man im Schatten von Ficusbäumen sitzt und auf das Meer und Sizilien blickt. Ich erzählte Francesca, wie oft ich gefragt worden war, warum ich nie über die Mafiamusik geschrieben hätte. Und dass ich das instinktiv stets abgelehnt hätte. Weil sich in mir etwas sträubte, die Mafia als Folklore zu beschreiben.
»Ein Deutschland, das der Musik der Mafia lauscht, passte nicht zu dem Deutschland, das ich kenne«, sagte Francesca und wies darauf hin, dass es eine deutsche Soziologin der Universität Cosenza gewesen war, Renate Siebert, die festgestellt hatte, dass die Mafia und der Totalitarismus auf der gleichen Geringschätzung des menschlichen Lebens basieren und sich auf dieselben Werte berufen. Wie konnte es also sein, dass die Deutschen dies nicht bemerkten?
»Es sind abstoßende, von den Kalabriern verabscheute Lieder«, sagte Francesca. Lieder, voll mit den »bösen Ideen« der mafiosen Vorstellungswelt. Es werde so getan, als handele es sich um geschichtliche Wahrheiten oder glaubhafte soziologische Analysen. Bemerkenswert an dem Erfolg sei allerdings nicht die Musik gewesen, sondern die Falschinformation. Mit Hilfe einer Pressekampagne konnte sich die Mafia folkloristisch tarnen. Unterstützt von Journalisten, die kein Italienisch sprachen, aber behaupteten, mitflüchtigen Mafiosi und Bossen im tiefsten Aspromontegebirge Interviews geführt zu haben. Journalisten, die weder ein Buch über die italienische Geschichte noch eine einzige Prozessakte gelesen hatten – und die so inbrünstig die Aufnahmerituale der Mafia beschrieben, als ob sie dabei gewesen wären.
Der Spiegel , das Hamburger Abendblatt , die Hamburger Morgenpost , die Bild , der Stern , die Frankfurter Rundschau und die Frankfurter Allgemeine Zeitung , ja, sogar die Zeit – hatte Francesca festgestellt –, sie alle haben über die musizierende Mafia berichtet, als handele es sich um die Musik eines kleinen, tapferen, vom Aussterben bedrohten Volkes, das sich an einen althergebrachten Ehrbegriff klammert.
Und nicht nur die deutsche Presse machte Ausflüge nach »Mafialand«, nein, auch Schweizer Zeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung , Alert , Massiv berichteten über die Mafiamusik. Später setzte die Pressekampagne der Mafiamusik ihren Siegeszug durch die Welt mit Le Monde und Libération fort, es folgte der Guardian , Times Magazine , Newsweek .
Als Francesca die Artikel las, schauderte sie. Die Bewohner Kalabriens tauchten nur als hässliche Wilde auf, die kalabrischen Berge waren nichts anderes als Zufluchten für Verbrecher, die Mafia als ein kalabrischer Wesenszug. Alle Journalisten waren ihrer Faszination für die Mafia erlegen. Die Artikel über die Mafiamusik erinnerten Francesca daran, dass es für sie in den Jahren, als sie in Deutschland lebte, immer einen Moment gegeben hatte, in dem sie ihre Herkunft negativ definieren musste: Ich bin nicht so ... Wir sind nicht so ...
»Ich musste klarmachen, dass ich mit den Schlächtern nicht mehr als die Herkunft gemein hatte«, sagte Francesca.Leider sei sich die Presse ihrer Verantwortung kaum bewusst gewesen, als sie mit wohligem Schauder schrieb, dass die Musik der Mafia in Italien verboten sei. »Falsch«, sagte Francesca: »Die CDs und Kassetten finden sich auf den Verkaufsständen der Märkte, und alle tragen den Stempel der italienischen Gema, der Verwertungsgesellschaft für musikalische Aufführungsrechte. Ihre Produzenten sind steuerpflichtig.«
Francesca las, dass die Lieder von einem deutschen Journalisten entdeckt worden seien. Auch das sei falsch: In Italien kennt man die Lieder seit Jahrzehnten als marginales Musikphänomen, ohne jeden künstlerischen Wert. Die Journalisten schrieben, dass die Mafiosi so etwas wie Robin Hood seien, Erben der Briganten. Die Mafiosi hätten gegen die ausländischen Eroberer rebelliert, gegen die Spanier, die Habsburger, die Bourbonen. »Falsch«, sagte Francesca. »Die Briganten waren gesellschaftliche Rebellen, Mafiosi hingegen sind und waren immer nur an der Macht interessiert.«
Die Mafia sei entstanden, um das Volk zu verteidigen, las Francesca.
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