Von Kamen nach Corleone
Verantwortung der deutschen Auftraggeberfirmen und der Kolonnenschieber, die sehr wohl gewusst hätten, dass die italienischen Firmen, mit denen sie zusammenarbeiteten, nur Scheinfirmen waren. Er hob anerkennend hervor, dass die Angeklagten alle ein Geständnis abgelegt hatten, was sich ebenso strafmildernd auswirke wie der Alkohol- und Drogenmissbrauch einiger Angeklagter, er lobte die maßvolle Vorstellung vom Strafmaß seitens der Staatsanwaltschaft und verkündete schließlich ein mildes Urteil: Die Höchststrafe lag bei vier Jahren und sechs Monaten, alle anderen lagen darunter, ein Angeklagter wurde freigesprochen.
Als ich versuche, einen Sattelschlepper an einer sehr engen Baustelle zu überholen, denke ich immer noch an das Urteil. Auch in der Urteilsbegründung kam das Wort Mafia nicht vor. Stattdessen wurde wortreich die Vorgeschichte der Angeklagten beschrieben: Der erste fiel als Kind vom Baum, was einen doppelten Kieferbruch sowie eine luftdruckbedingte Verschiebung der Organe zur Folge hatte, die jedoch vollständig ausgeheilt sei. Wegen der körperlich anstrengenden Arbeit als Eisenflechter auf Baustellen habe er allerdings angefangen, Alkohol zu konsumieren, bis hin zu zehn Flaschen Bier und einem halben Liter Likör täglich. Er habe auch mit Haschisch und Marihuana experimentiert, ebenfalls mit Kokain, allerdings habe ihm der Konsum und die Wirkung nicht zugesagt, weder von Kokain noch von Haschisch und Marihuana.
Der zweite verließ mit zehn Jahren die Schule, um sichin Sizilien der Vogelzucht zu widmen, sei später in Deutschland aufgrund seiner Nähe zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Kontakt mit Betäubungsmitteln gekommen – Heroin und Alkohol –, weshalb auch er zu ordentlicher Arbeitsleistung nicht fähig gewesen und deshalb nach Sizilien zurückgekehrt sei. Weil er aber auch dort kein Geld verdiente, sei er wieder nach Deutschland gekommen. Und habe Kokain bis hin zum Realitätsverlust konsumiert.
Der dritte hatte bis zu seinem Einsatz auf den Baustellen eine Pizzeria in Köln betrieben, allerdings ohne nennenswerten Gewinn zu erzielen. Die Lieferantenrechnungen hätten stets die Umsätze überstiegen.
Der vierte lernte weder einen Beruf noch die deutsche Sprache, hatte keine nennenswerten Krankheiten, habe aber gelegentlich Kokain konsumiert. Nasal. Erst seit der Inhaftierung habe er damit aufgehört.
Der fünfte war in Stuttgart zur Welt gekommen, hatte ebenfalls weder einen Beruf noch die deutsche Sprache gelernt, was ihm die Arbeitssuche erschwert habe. Er arbeitete erst in einer Fabrik, dann in einer Kölner Pizzeria, hatte mit seiner sizilianischen Ehefrau vorübergehend und glücklos in Sizilien gelebt und litt an Arthrose in den Kniegelenken. Immerhin hatte er weder ein Drogen- noch ein Alkoholproblem.
Es war also eigentlich ein Wunder, dass diese vom Schicksal benachteiligte Truppe überhaupt in der Lage war, sich auf den Beinen zu halten, geschweige denn Notarverträge für Strohmannfirmen abzuschließen, Gewerbe anzumelden, Wohnungen anzumieten, in denen falsche Rechnungen ausgestellt wurden, Firmenkonten bei sämtlichen deutschen Banken und Sparkassen zu eröffnen, die Kolonnenschieber zu kontaktieren – also jene Vorarbeiter, dieregelmäßig mit den gleichen Arbeitern zusammenarbeiten, aber keine eigene Baufirma betreiben, die deutschen Strohmänner zu bezahlen, in der Regel mit dreihundert Euro wöchentlich sowie einer Abschlagszahlung von 25 000 Euro und sich im Falle einer Durchsuchung der Geschäftsräume rechtzeitig ins Ausland abzusetzen.
Der Richter hatte die Angeklagten dann noch darüber belehrt, dass sie das Recht hätten, Revision einzulegen. Alle Angeklagten verzichteten jedoch darauf.
In der Nacht zu fahren ist, als würde man sich ins Nichts stürzen, einem schwarzen Schlund entgegen, der das lodernde Herbstlaub, die Birken und die Vogelschwärme verschluckt hat. Ich merke, wie ich müde werde, und daran ändert weder Gianna Nannini, noch Paolo Conte etwas. Und auch nicht SWR drei. Ich beschließe, die Nacht im nächsten Autobahnhotel zu verbringen, in einem der vielen bienenwabenartigen um den Flughafen Frankfurt herum, ich nehme das erstbeste. Es ist ein Steigenberger und sieht aus wie ein gläsernes Luftschiff. Um der Hotelzimmerdepression zu entgehen, die mich stets befällt, sobald ich meine Magnetkarte in den Schlitz an der Tür schiebe, in einem Zimmer voller Fremdheit und abgestandener Luft stehe und das Willkommen Frau Reski auf
Weitere Kostenlose Bücher