Von Kamen nach Corleone
Luft scheint weicher, ein Rest des Sommers wird über das Gebirge geweht.
Als Goethe Italien bereiste, nannte er sich »ambulanter Wetterbeobachter«. Ich glaube auch, den Süden zu riechen. Ihn an der Beschaffenheit der Luft zu erkennen. So wie die deutschen Reisenden der Grand Tour, die im Übrigen keineswegs alle so schwärmerisch wie Goethe veranlagt waren: So gab es einen preußischen Assessor, Gustav Nicolai, der 1834 ein Buch veröffentlichte mit dem Titel Italien wie es wirklich ist , gefolgt von dem Untertitel: Bericht über eine merkwürdige Reise in die hesperischen Gefilde, als Warnungsstimme für Alle, welche sich danach sehnen. Der deutschen Italiensehnsucht setzte er entgegen, dass der italienische Himmel nicht schöner sei als der deutsche und die Palmen nicht die Rede wert seien. Und dass man in Italien im Übrigen auch Kartoffeln esse.
Von all dem ahnte ich damals jedoch nichts. Ich kannte nur den Paten . Den ich aber, als wir über die Alpen fuhren, schon lange in die Seitentasche neben den Shell-Atlas gesteckthatte, weil ich nicht verpassen wollte, wie wir uns der italienischen Grenze näherten. Heute gibt es keine Grenzkontrollen mehr, und wer nicht aufpasst, merkt erst in Bozen, dass er schon lange in Italien ist. Deshalb suche ich nun nach dem Schild »Italia« und gedenke eines italienischen Tankwarts, der mir damals mein Grand-Tour-Erlebnis bescherte.
Es war kurz hinter der Grenze. Ich war aus dem Auto gestiegen, und dann kam mir dieser Tankwart entgegen, ein völlig durchschnittlicher Italiener, leicht ölverschmiert, nicht mal jung und auch nicht schön. Ich wollte sagen: Ein Mal volltanken bitte. Aber bevor ich das sagen konnte, sagte der Tankwart: Buon giorno, signorina, und es war um mich geschehen. Es war, als hätte er einen Vierzeiler von Dante zitiert. Das Wort signorina überwältigte mich. Es klang so unbeschwert. So anmutig. Und so charmant. Schlagartig vergaß ich den Weiblichkeitswahn, den weiblichen Eunuchen und das andere Geschlecht. Signorina. Stumm stieg ich wieder in den Renault. Bis Bozen habe ich geschwiegen.
9
Grüß Göttin steht auf einem Schild am Straßenrand, und kurz hinter dem Brenner sieht die Welt aus, als würde sie unter einem von hinten beleuchteten Glassturz stehen. Ein Schirokko-Himmel wölbt sich über die Landschaft, über die Gipfel, die Wiesen und die Weinberge, und mein innerer Kompass sagt mir, dass ich jetzt eigentlich geradeaus weiterfahren müsste, weiter nach Süden, so wie damals mit dem alten Renault vier, als wir unsere erste Nacht in einer kleinen Pension in den Alpen verbrachten und die zweite im Auto auf einem Parkplatz unweit von Florenz. Aber ich habe Heimweh nach Venedig. Wenigstens eine Nacht will ich in meinem Bett verbringen. Und deshalb biege ich bei Verona einfach Richtung Osten ab.
Ich bin die Strecke nach Venedig schon oft gefahren, in jener Zeit, als ich noch ein Auto besaß und mir nicht vorstellen konnte, jemals ohne die Freiheit existieren zu können, jederzeit aufbrechen zu können und irgendwohin zu fahren. Nach Panama. Oder Livingstone. Oder nach Corleone. Aus dieser Zeit ist mir noch die einsame Schirmpinie vertraut, die etwa in der Höhe von Vincenza mitten auf der Autobahn steht, eingezwängt zwischen die Leitplanken der beiden Fahrbahnen. Sie war für mich die Verheißung des Südens. Wenn ich sie passiert hatte, wusste ich, dass es nicht mehr lange dauerte, bis ich das Meer sähe.
Als ich schließlich über die Ponte della Libertà nach Venedig fahre, schimmert die Lagune wie flüssiges Silber. Früher habe ich die Venezianer belächelt, die mir gestanden, wie sehr ihnen das Wasser fehle, wenn sie das Schicksal in normale Städte verschlägt. Die auch kein Fluss trösten kann, weil ein Fluss üblicherweise nur in eine Richtung fließt, anders als das Wasser in Venedig, das sechs Stunden in die eine und sechs Stunden in die andere Richtung strömt. Und genauso ging es mir zuletzt, als ich in Berlin war und auf die Spree blickte. Die Spree kannte keine Gezeiten, und plötzlich spürte ich Sehnsucht nach Venedig.
Für die Venezianer ist die von den Österreichern gebaute Ponte della Libertà der Anfang vom Ende, jene Brücke, die Venedig nur noch angeleint im Wasser treiben lässt, wie ein Fisch an der Angel. Seit jenem Tag leiden die Venezianer darunter, mit dem Festland zwangsvereinigt worden zu sein – und damit mit all dem, was ihnen verhasst ist, mit Autos, Straßen und mit Verkehrslärm. Eine Abneigung, die
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