Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Von Lichtwiese nach Dunkelstadt

Titel: Von Lichtwiese nach Dunkelstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivar Leon Menger , John Beckmann
Vom Netzwerk:
aus. Ich erstarrte, was meinen Augen die Gelegenheit gab, sich an die Lichtverhältnisse in der Höhle zu gewöhnen. Bei dem eiförmigen Gebilde handelte es sich um den Körper des Kraken-Orang-Utans, bei den Seilen um seine Tentakel und das Pfeifen und Flappern, das laut von den Wänden widerhallte, war der gleichmäßige Atem des Monsters, welcher von einer vibrierenden Unterlippe begleitet wurde.
    „Er schläft“, sagte ich, als ich mich wieder bewegen konnte.
    „Das ist kein Kraken-Orang-Utan“, flüsterte Agerian tonlos. „Das ist ein K.“
    „Ein K? Seltsamer Name …“
    „Mehr kriegst du für gewöhnlich nicht raus, wenn du dich einem gegenübersiehst. Dodo, sieh zu, dass du da wegkommst, bevor das Viech aufwacht und dich zum Frühstück verspeist!“
    „Wenn es dich frisst, frisst es uns nämlich auch“, gab Strom-Klaus zu bedenken.
    „Das weiß er schon“, entgegnete Strom-Tom.
    „Ich geh vor“, verkündete Agerian. Seine Stimme zitterte.
    „Hoffentlich gibt es überhaupt einen zweiten Ausgang“, sagte ich, doch da war Agerian bereits einige Meter entfernt, also folgte ich ihm.
    Wir hielten uns dicht an der Wand. Strom-Tom dimmte die Beleuchtung auf Nachtlicht-Stärke herunter. Ich versuchte, nach vorne zu gucken und nicht die ganze Zeit auf den K zu starren, doch genauso gut hätte man jemandem, der sich einem wilden Grizzlybär gegenübersieht, raten können, einfach die Augen zu schließen und an etwas Schönes zu denken. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich das kleine, weiße Stück Stoff wahrscheinlich übersehen. Es sah aus wie ein Taschentuch und lag etwa auf halben Weg zwischen mir und dem Kraken-Orang-Utan.
    „Ich brauche etwas mehr Licht“, flüsterte ich.
    Das Nachtlicht wurde zu einer Leselampe.
    Jetzt erkannte ich es ganz genau: Es war ein weißes Stoff-Taschentuch mit taubenblauen Ornamenten am Rand. Dass die Ornamente taubenblau waren, konnte ich zwar nicht sehen, aber ich wusste es trotzdem.
    „Agerian“, zischte ich in die Dunkelheit.
    Seine Schritte verstummten. „Was ist?“
    „Ich glaube, das ist Omis Taschentuch“, ergänzte ich.
    „Dodo, wir müssen weiter!“
    „Lass es liegen“, sagte Strom-Tom. „Du kannst deiner Omi eine Lkw-Ladung voller Taschentücher kaufen, wenn wir zurück sind. Du hast ja immer noch die Sofortrente.“
    „Darum geht es nicht“, sagte ich und bezweifelte insgeheim, dass die Sofortrente nach allem, was passiert war, tatsächlich gezahlt werden würde. „Wenn das Omis Taschentuch ist, dann ist Omi auch hier irgendwo.“
    „Tu das nicht!“, zischte Strom-Tom, der bereits ahnte, was ich vorhatte. „Das ist zu gefährlich!“
    „Ich muss.“
    Ich löste ich mich von der Wand und schlich zum Taschentuch hinüber. Dabei ließ ich den Kraken-Orang-Utan nicht aus den Augen.
    „Bleib hier!“, zischte Agerian hinter mir.
    „Ich dreh dir das Licht aus“, drohte Strom-Tom. „Dann stehst du im Dunkeln!“
    Doch er tat es nicht, und so erreichte ich das Taschentuch und hob es auf. Die Verzierungen waren tatsächlich taubenblau. In der Ecke waren zwei Initialen in den Stoff gestickt. R und F. Ich hatte mich nicht geirrt. Es war Omis Taschentuch. Zusammen mit dieser Erkenntnis bemerkte ich noch etwas anderes: Es war auf einmal sehr ruhig in der Höhle. Das flappende Schnarchen war verschwunden. Mein Körper verkrampfte sich. Ich zog unwillkürlich meinen Kopf zwischen die Schultern, was es recht schwierig machte aufzuschauen. Ein weiteres Mal erkannte ich zwei Dinge beinahe zeitgleich: Der K hing weiterhin direkt über mir von der Decke. Und: Seine schwarzen Knopfaugen waren für sich betrachtet wirklich ziemlich niedlich – besonders, wenn sie einen so unverwandt anglotzten.
    „Lauf, Dodo! Lauf!“, brüllte Agerian, was sofort von den Höhlenwänden zurückgeworfen wurde. Strom-Klaus schrie ebenfalls etwas, das ich aufgrund des dröhnenden Echos jedoch nicht verstand, und Strom-Tom schaltete vor Schreck das Licht erst komplett ab, um es gleich darauf voll aufzudrehen. Einer der schweren, pelzigen Tentakel löste sich von der Decke und raste herab.
    K-, dachte ich. Weiter kam ich nicht. Das Ende des Tentakels traf mich mit voller Wucht. Plötzlich war der Boden verschwunden und ich dachte: Kettenkarussell. Die Höhlenwand raste heran und alles wurde schwarz.

    Und dort sind wir nun. Am Ende meiner Geschichte.
    Ich sehe mich auf dem felsigen Boden liegen. Der Kraken-Orang-Utan ist verschwunden. Ich weiß nicht, wohin. Zwei Lichter

Weitere Kostenlose Bücher