Von Lichtwiese nach Dunkelstadt
…“ Ich zeigte auf das helle Rechteck am Ende des Wracks. „Das ist dort draußen passiert?“
Sie nickte.
Ich stand auf. „Zeig mir die Stelle.“
Omi sah zu mir auf. „Wir können da nicht raus, mein Junge! Hast du mir denn nicht zugehört? Diese Dinger, diese Tentakel -“
„Ich weiß“, unterbrach ich sie. „Aber wir müssen nach ihr suchen. Wir können Tante Hablieblieb nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.“
Wieder nickte Omi. Dann stand sie auf.
Wir stiegen aus dem U-Boot und kletterten an einer breiten Metallstrebe, die wie eine Leiter bis zum Sand hinunterreichte, nach unten. Morgens spendete das Wrack noch keinen Schatten. Die Sonne empfing uns mit klebrig-feuchten Armen. Ich schwitzte Brause.
„Dort vorne.“ Omi wies auf eine der großen Düne zu unserer Linken.
Der Sand war lockerer als am Vortag. Bei jedem Schritt versanken meine Turnschuhe bis zu den Schnürsenkeln. Immer wieder blieben wir stehen und lauschten. Es waren keine fünfzig Meter bis zur Düne, doch es kam mir vor wie ein Marathon.
„Hier war es“, sagte Omi leise, und wir blieben stehen.
Ich suchte den Boden ab, fand jedoch nichts. Keine Spur von Tante Hablieblieb, keine Spuren von irgendwelchen Tentakeln. Ich wischte mir über die Stirn und fragte mich, ob meiner Omi die Hitze nicht noch mehr zusetzte als mir. Aber selbst wenn sie sich das alles nur eingebildet hatte, wo war dann Tante Hablieblieb?
„Und jetzt?“, fragte Omi.
Ich hob die Schultern. Dann hörten wir das Brummen. Ein schwerer LKW raste heran. Irgendwo unter uns. Der Sand um meine Turnschuhe kam in Bewegung, rieselte Richtung Fersen. Unsere Zeit lief ab. Ich packte Omis Hand, und wir rannten davon. Das Brummen mündete in einem aufgebrachten Fauchen, ein Sandschauer ging auf uns nieder, und Omi riss meinen Arm mit solcher Kraft zurück, dass ich sie beinahe losgelassen hätte. Ich wirbelte herum und griff auch mit der zweiten Hand nach ihr. An der Stelle, an der wir gerade eben noch gestanden hatten, klaffte jetzt ein Loch, aus dem ein halbes Dutzend rostbrauner, pelziger Tentakel ragten, die blindlings um sich schlugen. Nur einer der Tentakel hatte bereits gefunden, wonach er gesucht hatte und zerrte Omi – mit mir als Anhang – in Richtung Krater. Ich stemmte meine Schuhe in den tiefen Sand und versuchte mit aller Kraft, Omi von den fleischfarbenen Saugnäpfen loszureißen.
„Es hat mein Bein!“, schrie Omi immer wieder. „Es hat mein Bein!“
Ich hingegen hatte mich für „Halt meine Hand fest, halt meine Hand fest!“ entschieden.
Weder ihr noch mein Geschrei half. Stück für Stück rutschten wir näher an den Abgrund heran. In der Tiefe erkannte ich jetzt ein weit aufgerissenes Maul und ein Paar schwarze Knopfaugen, die in einer anderen Situation mit Sicherheit die Bezeichnung niedlich verdient hätten. Ein Kraken-Orang-Utan, dachte ich voller Panik und es gelang mir, Omi wieder ein Stück zurückzuziehen. Dann erwischte ein zweiter Tentakel ihre Hüfte.
„Lass mich los“, rief Omi. „Es wird uns sonst beide hinabziehen.“
„Niemals! Ich lass dich nicht gehen!“
„Lass los.“
Sie öffnete ihre Hand. Ich versuchte, sie festzuhalten. Ich presste meine Handflächen so fest gegeneinander wie ich konnte, doch die kurzen, rauen Finger rutschten Zentimeter für Zentimeter zwischen meinen hindurch. Ich wollte nach Omis Handgelenk greifen, um einen besseren Halt zu haben, doch es war zu spät. Mit einem Schnippen verabschiedeten sich Omis Finger von meinen, und die Tentakel rissen Omi in die Tiefe. Ihre Küchenschürze winkte einen Abschiedsgruß, dann war es vorbei. Ein leiser werdendes Brummen war das Einzige, was noch an den Angriff des Kraken-Orang-Utans erinnerte.
Ich lief zu der Stelle, an der vor zehn Sekunden noch ein riesiges Primatenmaul geklafft hatte, und begann zu graben, was sich aus vielen Gründen heraus als völlig sinnlos erwies. Der offensichtlichste davon war, dass für jede Handvoll Sand, die ich über meine Schulter warf, beinahe die gleiche Menge von den Rändern aus zurück ins Loch rieselte. Ich gab es auf und lief stattdessen heftig stampfend im Kreis herum, in der Hoffnung, dass der Kraken-Orang-Utan zurückkommen und auch mich holen würde, doch er reagierte einfach nicht auf mein Trampeln. Erschöpft ließ ich mich auf die Knie fallen, schloss meine Augen und legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne brannte erbarmungslos auf mein schweißnasses Gesicht. Ich hatte Omi verloren, genauso wie Tante
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