Von Liebe und Gift
endgültig den Geist auf. Und während Neal an seine unpässliche Lage dachte, nahm Thilo sein Handy in die Hand und wählte Geros Nummer, doch niemand nahm ab.
„Ich geh mal nach drüben“, entschloss er sich dann und erhob sich. „Vielleicht sitzt er in der WG und denkt, wir haben ihn vergessen.“
„Na gut“, erwiderte Francis. Sie nahm das große Küchenmesser in die Hand, um den Kuchen anzuschneiden. Thilo ging in die WG, und als die Geschwister alleine waren, konnte Francis ihre Worte nicht mehr zügeln.
„Es ist schlimm genug, dass du Drogen nimmst!“, keifte sie. „Musst du jetzt auch noch mit dem Trinken anfangen?“ Wütend sah sie Neal an. „Reiß dich doch wenigstens heute mal zusammen!“
„Aber Liebes“, entgegnete Neal mit sanfter Stimme, dabei strich er seiner Schwester seitlich über den Rock, „heute feiern wir doch.“
„Du scheinst mir jeden Tag zu feiern!“, fauchte Francis. Ihre Toleranz war am Ende. Mit zittrigen Händen zündete sie die Kerzen an, die sie auf dem Tisch verteilt hatte.
Die Wohnungstür ging wieder auf.
„Vorsicht, sie kommen!“, sagte Francis aufgeregt. Sie drehte sich, sah in den Flur, doch von Gero keine Spur. Stattdessen sah sie in Thilos schockiertes Gesicht.
„Ihr müsst schnell rüberkommen!“, schrie der ganz aufgebracht. „Der hat sie doch nicht mehr alle, verdammte Scheiße!“
„Wieso, was ist denn?“, fragte Francis besorgt.
„Gero … ich glaube, der hat sich die Pulsadern aufgeschnitten … Bitte, kommt rüber!“
Francis erstarrte, und es war Neal, der als erster aufsprang, sein Glas fallen ließ und rüber in die WG rannte. Er fand Gero im Bad liegend. Seine Augen waren geschlossen, um seine Handgelenke herum waren riesige Lachen Blut zu sehen. Zum Teil hatte es die Kleidung sogar schon aufgesogen.
Erschüttert von dem Anblick kniete sich Neal zu seinem Freund herunter und versuchte ihn wachzurütteln, doch Gero blieb bewusstlos.
„Mensch, Kleiner, was machst du für einen Mist!?“, schrie Neal. „Nein, nein!“ Er drückte Gero an sich.
„Du musst den Notarzt rufen!“, schrie Francis im Hintergrund.
„Das hab ich doch schon längst getan!“, erwiderte Thilo. Auch er kam wieder in das Bad gerannt. Als er registrierte, dass Gero noch immer bewusstlos war, brach er in Panik aus. „Was sollen wir denn bloß tun?“
Neal war der Einzige, der trotz des Alkohols, und vielleicht auch gerade deswegen, einen klaren Kopf bewahrte. Er griff hinter sich in den kleinen Schrank und zog Waschlappen und Handtücher heraus. „Wir müssen die Blutung stillen!“, erklärte er, während er sich Geros rechten Arm nahm und zuerst einen Lappen und dann ein Handtuch um dessen blutendes Handgelenk wickelte. Thilo kam ihm zu Hilfe. In wenigen Sekunden hatten sie die Schnitte fest umwickelt.
„Müssen wir die Beine hoch lagern?“, fragte Neal, als sie die Schnitte versorgt hatten.
Thilo zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“, rief er aufgeregt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Ich bin doch kein Arzt!“
„Schon gut“, erwiderte Neal, der längst erkannt hatte, dass Thilo unter Schock stand, ebenso wie Francis, die still im Hintergrund stehen blieb und weinte. „Hol einfach Kissen, okay?“
Thilo nickte und brachte aus dem Schlafzimmer Kissen und Decken. Sie lagerten Geros Beine hoch und deckten ihn zu. In der Ferne hörten sie den Rettungswagen.
Neal strich seinem Freund sanft über die Wange. Überall, wo er hinsah, klebte Blut.
„Wieso machst du bloß so etwas, mein Süßer“, flüsterte Neal leise, und schon im nächsten Moment wurde er von dem Arzt und den Sanitätern zur Seite gedrängt.
Neals Knie begannen zu zittern, als er sich wieder aufrichtete. Die Bilder vor seinen Augen wurden immer verschwommener. Er sah nur noch schemenhaft, wie Gero auf eine Trage gelegt und aus dem Bad gebracht wurde. Und plötzlich bemerkte er Francis, die sich vor ihn stellte und ihn strafend ansah.
„Bist du nun zufrieden, ja?“, schrie sie lauthals. „Ist es das, was du wolltest?“
Neal blinzelte mit den Augen. Er konnte sie kaum noch offen halten. Sein Kopf begann zu schmerzen. Er konnte einfach nicht antworten.
„Sag schon!“, schrie Francis trotzdem weiter, „hast du erreicht, was du wolltest? – Ich sage dir, wenn Gero stirbt, dann ist das deine Schuld!“
Neal bemerkte, wie die Kraft in ihm nachließ, er wankte, suchte irgendwo einen Halt, und plötzlich wurde alles schwarz …
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