Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
Achtziger New Wave sein, trotzdem handelte es sich um einen Arbeiter-Pub, den verwegene Männer und Frauen, die schon sehr viel erlebt hatten, besuchten, nachdem sie den ganzen Tag hart gearbeitet und sich verdammt nochmal ein bisschen Entspannung verdient hatten. Hier konnte man nicht so tun, als gehörte man hierher. Ich trug zwar Jeans, trotzdem passte ich absolut nicht dazu. Win hingegen wirkte wie ein Eclaire in einem Fitness-Club.
Gäste– manche mit Schulterpolstern, dünnen Lederkrawatten und Schaumfestiger-Frisuren– durchbohrten Win mit Blicken. Es war wie immer. Wir alle kennen die üblichen Vorurteile und Stereotypen, und Win wäre der Letzte, der Mitgefühl einfordern würde– jedenfalls hassten die Leute ihn schon, sobald sie ihn zu Gesicht bekamen. Wir urteilen alle nach dem Aussehen– das ist nicht wirklich neu. Die Leute sehen in Win die Privilegien, die ihm in die Wiege gelegt wurden. Sie wollen ihn dafür bestrafen. So war es schon sein ganzes Leben gelaufen. Selbst ich kenne nicht alle Einzelheiten dieser Geschichte– Wins › Genese‹, um den Superhelden-Jargon zu verwenden–, aber eine Tracht Prügel, die er als Kind bekommen hatte, hatte ihm offenbar einen Knacks verpasst. Er wollte keine Angst mehr haben. Nie mehr. Also hatte er sein Vermögen genutzt und jahrelang für die Vervollkommnung seiner Fertigkeiten trainiert. Als wir uns in der Universität kennenlernten, war sein Körper bereits eine tödliche Waffe.
Win begegnete diesen Blicken lächelnd und mit freundlichem Nicken. Der Pub war alt und heruntergekommen, er sah fast ein bisschen unecht aus, was ihn allerdings nur noch authentischer machte. Die Frauen waren kräftig gebaut, hatten große Brüste und Rattennest-Frisuren. Viele trugen diese Flashdance -Sweatshirts, bei denen eine Schulter frei blieb. Eine beäugte Win. Ihr fehlten mehrere Zähne. Sie hatte ein paar Bänder im Haar, die allerdings nichts besser machten– wie die Madonna der » Starlight«-Ära–, und ihr Make-up sah aus, als hätte sie es sich mit Paintball-Kugeln in einer dunklen Abstellkammer aufgetragen.
» Hallöchen«, sagte sie zu Win. » Wir sind aber ein hübscher Bursche, was?«
» Aber selbstredend«, sagte Win. » Das sind wir allemal.«
Der Barkeeper nickte uns zu, als wir auf ihn zugingen. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: Frankie say relax.
» Zwei Bier«, sagte ich.
Win schüttelte den Kopf. » Er meint zwei Pints Lager.«
Wieder die Wortwahl.
Ich fragte nach Nigel Manderson. Der Barkeeper verzog keine Miene. Ich wusste, dass das so keinen Sinn hatte. Also drehte ich mich um und rief: » Wer hier ist Nigel Manderson?«
Ein Mann in einem barock gerüschten, weißen Hemd mit Schulterpolstern hob sein Glas. Er sah aus, als wäre er gerade einem Spandau-Ballet-Video entsprungen. » Zum Wohl, Kumpel.«
Die etwas undeutliche Stimme kam direkt vom Ende der Theke. Manderson hielt die Hände um seinen Drink wie um einen Jungvogel, der gerade aus dem Nest gefallen war. Er hatte wässrige Augen und so eine spinnenähnliche Ader auf der Nase, die bei ihm allerdings aussah, als hätte jemand die Spinne zertreten.
» Netter Laden«, sagte ich.
» Total irre, oder? Ein kleiner Rohdiamant, der mich an bessere Zeiten erinnert. Na ja, aber wer sind Sie denn?«
Ich stellte mich vor und fragte ihn, ob er sich an einen tödlichen Verkehrsunfall von vor zehn Jahren erinnerte. Ich erwähnte Terese Collins. Dann unterbrach er mich mitten im Satz.
» Ne, kann ich mich nicht mehr dran erinnern«, sagte er.
» Sie war eine bekannte Nachrichtensprecherin. Ihre Tochter ist bei dem Unfall gestorben. Sie war sieben Jahre alt.«
» Ich erinnere mich immer noch nicht daran.«
» Haben Sie viele Fälle bearbeitet, in denen siebenjährige Mädchen gestorben sind?«
Er drehte sich auf dem Hocker um und sah mich an. » Nennen Sie mich einen Lügner?«
Ich weiß, dass sein Akzent einwandfrei, echt und von hier war, für meine ungeübten Ohren klang er trotzdem wie der von Dick Van Dyke in Mary Poppins. Jetzt brauchte er mich nur noch » Guv’nor« zu nennen.
Ich erzählte, auf welcher Kreuzung der Unfall stattgefunden hatte, und nannte ihm die Automarke. Als ich ein Waa-Waa-Geräusch hörte, blickte ich nach links. Jemand spielte Space-Invaders an einem Spielautomaten.
» Ich bin im Ruhestand«, sagte er.
Ich blieb dran, wiederholte geduldig sämtliche mir bekannten Einzelheiten. Der Großbildfernseher war direkt hinter ihm, und ich muss gestehen, dass
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