Von meinem Blut - Coben, H: Von meinem Blut - Long Lost
eintreten, Kumpel. Da brechen Sie sich nur den Fuß.«
Ich zielte mit der Pistole auf das Schloss.
» Hey, immer mit der Ruhe. Glauben Sie wirklich, dass er in Gefahr ist?«
» Ja.«
Er seufzte. » Oben über dem Türrahmen liegt ein Ersatzschlüssel. Da rechts.«
Ich griff hinauf und fuhr mit der Hand den schmalen Türrahmen entlang. Da war er. Ein Schlüssel. Ich steckte ihn ins Schloss. Billy Idol stellte sich neben mich. Ein Gestank von Zigarettenqualm stieg von ihm auf, als hätte man ihn als Aschenbecher benutzt. Ich öffnete die Tür und trat ein. Billy Idol war direkt hinter mir. Wir hatten gerade zwei Schritte gemacht, als wir erstarrten.
» Du meine Güte…«
Ich sagte nichts. Ich stand nur da, starrte in die Wohnung und konnte mich nicht bewegen. Zuerst sah ich nur Marios Füße. Sie waren mit Klebeband an den Couchtisch gefesselt. Der Laufstall und die Plüschtiere, die ich am Vortag gesehen hatte, lagen in der Ecke. Ich überlegte, ob sie der letzte Anblick in Marios Leben gewesen waren.
Seine Füße waren nackt. Neben ihm lag eine Bohrmaschine. Er hatte ordentliche kleine Löcher, perfekte kleine kastanienrote Kreise in seinen Zehen und in der Ferse. Mir war klar, dass die Löcher mit der Bohrmaschine erzeugt worden waren. Es gelang mir, die Beine zu heben und näher heranzutreten. Er hatte noch mehr Bohrlöcher im Körper. In den Kniescheiben. Im Brustkorb. Langsam wanderte mein Blick hinauf zu seinem Gesicht. Unter der Nase, in den Wangenknochen und am Kinn waren weitere Bohrlöcher. Marios schmales Gesicht starrte mich mit verdrehten Augen an. Er war unter furchtbaren Schmerzen gestorben.
Billy Idol flüsterte noch einmal: » Du meine Güte…«
» Wann haben Sie die laute Musik gehört?«
» Hä?«
Ich hatte nicht die Kraft, die Frage zu wiederholen, aber dann begriff er, warum ich das fragte. » Um fünf Uhr morgens.«
Er war gefoltert worden. Die Musik sollte seine Schreie übertönen. Eigentlich wollte ich nichts berühren, aber das Blut sah noch ziemlich frisch aus. Schmutzigweißer Knochenstaub lag auf dem Boden. Noch einmal sah ich den Bohrer an. Das hohe Sirren der Bohrmaschine, das Mahlen des Bohrers und die Schreie, als er in Fleisch, Knorpel und Knochen eindrang.
Dann dachte ich an Terese, die nur ein paar Straßen weiter bei Karen war.
Ich rannte zur Tür. » Rufen Sie die Polizei!«, rief ich.
» Warten Sie. Wo wollen Sie hin?«
Ich hatte keine Zeit zu antworten. Während ich lief, steckte ich die Pistole in die Hosentasche und zog mein Handy heraus. Ich wählte Tereses Handynummer. Ein Klingeln. Ein zweites. Drei. Mein Herz pochte. Ich drückte ein paar Mal auf den Fahrstuhlknopf. Beim vierten Klingeln sah ich aus dem Fenster. Da sah ich sie. Sie blickte zu mir hoch.
Das junge, blonde Mädchen aus dem Lieferwagen.
Sie sah mich, drehte sich um und rannte weg. Ich hatte ihr Gesicht nicht richtig erkennen können. Im Prinzip hätte es irgendein blondes Mädchen sein können. Aber das war es nicht. Es war dasselbe blonde Mädchen. Ich war mir ganz sicher.
Was zum Teufel ging hier vor?
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich sah zur Treppe hin, aber dann öffnete sich die Fahrstuhltür. Ich sprang hinein und drückte auf Erdgeschoss.
Am Handy meldete sich Tereses Mailbox.
Das war nicht richtig. Sie müsste bei Karen sein. Und in Karens Haus hatte sie Empfang. Selbst wenn sie gerade wichtige Sachen besprachen, wäre Terese rangegangen. Sie wusste, dass ich sie nur im Notfall anrief.
Scheiße. Und was jetzt?
Ich dachte an die Bohrmaschine. Ich dachte an Terese. Ich dachte an Mario Contuzzis Gesicht. Ich dachte an das blonde Mädchen. Diese Bilder wirbelten in meinem Kopf herum, als der Fahrstuhl pingte und die Tür aufging.
Wie weit war es bis zu Karen?
Zwei Blocks.
Ich sprintete raus und drückte die Kurzwahltaste für Win. Er meldete sich beim ersten Klingeln, und bevor er überhaupt die Gelegenheit hatte, » Ich höre« zu sagen, keuchte ich: » Fahr zu Karen. Mario ist tot. Terese geht nicht ans Handy.«
» Zehn Minuten«, sagte Win.
Ich legte auf und spürte sofort, dass mein Handy vibrierte. Ohne anzuhalten, sah ich aufs Display. Ich blieb stehen.
Es war Terese.
Ich drückte die Annahme-Taste und hielt es ans Ohr. » Terese?«
Keine Antwort.
» Terese?«
Und dann hörte ich das hohe Sirren einer Bohrmaschine.
Der Adrenalinschub raubte mir den Atem. Ich kniff die Augen zu, aber nur für eine Sekunde. Keine Zeit zu verlieren. Meine Beine kribbelten,
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