Von Natur aus kreativ
getrennt und sie mehrfach nicht wiedersehen wollen. Sie teilen nicht unbedingt viele ihrer Interessen – er ist eher der Abenteurertyp, sie die Vorsichtige. Auch mit dem Beruf ihre Freundes hat Angela Schwierigkeiten – er ist plastischer Chirurg, und sie reagiert etwas empfindlich auf seine detailgenauen Erzählungen. So gesehen gab es keinen Highway mit Ausfahrt direkt ins Eheglück. Die Darstellung als schicksalhafte Liebesgeschichte ist jedoch eine kreative Konstruktion, die auf subjektiv ausgewählten Informationen beruht.
Lebensgeschichten und Liebesgeschichten sind immer eine kompositorische Leistung. Tatsächliche Zufälle werden im Nachhinein als bedeutsam angesehen, miteinander verbunden und in eine konsistente Geschichte verpackt. Ein kreativer Akt unseres Gehirns, bei dem Unliebsames auch schon mal ausgeblendet wird. Solche Verdrängungsleistungen unseres Gehirns sind ganz normal. Situationen, egal welcher Art, werden so gedeutet oder weggeschoben, dass sie sich sinnvoll in einen Fluss von Ereignissen fügen. Daraus entsteht eine kontinuierliche Lebensgeschichte, die immer weiter fortgeschrieben wird, eingeklemmt zwischen Antizipation, Hoffnung und Plänen.
Die Katastrophe tritt erst dann ein, wenn ein „Symmetriebruch“ stattfindet und wir Ereignisse nicht mehr in die selbstgeschaffene Lebensgeschichte integrieren können. Bei Lena Müller etwa hätte diese Katastrophe um ein Haar stattgefunden. Doch sie vermied den Symmetriebruch, indem sie die Situation zu verklären begann – auch das gehört zu den Mechanismen, mit denen wir unser Leben retrograd kreativ umdeuten: „Als ich meine große Liebe kennenlernte, war ich 17. Ich war drei Wochen in einem Ferienlager der Kirche. Für mich war es das erste Mal als Gruppenleiterin, aber ich fühlte mich noch gar nicht reif genug. Als es mit dem Ferienbus losging, fehlte noch ein Gruppenleiter, Christoph, er wollte mit seinem eigenen Auto hinfahren. Und als wir ankamen, wartete er schon auf uns, lässig an seinen blauen VW-Käfer gelehnt. Es war nicht richtig blau, mehr so petrolfarben. Die Sonne schien under sah genau so aus, wie ich mir den perfekten Mann immer in meinen Träumen ausgemalt habe.“
Lebensgeschichten sind manchmal unglaublich detailreich. Das hängt mit dem episodischen Gedächtnis zusammen, das emotionale Erinnerungen bildhaft speichert. Bis hierhin ist die Erzählung aber noch nichts weiter als eine romantische Schwärmerei vom Märchenprinzen, dem Lena begegnet ist. Und doch nimmt auch sie für diese Begegnung einen Symmetriebruch in Kauf, den sie dann kreativ begründet. „Zum Glück bin ich damals mitgefahren, das hat mein Leben komplett verändert. Ich war damals trotz meiner 17 Jahre noch sehr kindlich. Ich hatte die Auffassungen und Meinungen meiner Eltern unreflektiert übernommen, womit ich aber nicht glücklich war. Christoph nun hat all meine Überzeugungen in Frage gestellt, bis ich verstand: Ich muss mir selbst meine eigene Meinung bilden! Das klingt banal, aber es war für mich ein Initialerlebnis. Als ich wieder nach Hause kam, war ich wie verwandelt. Ich wurde zu einem kritischen und selbstständigen Wesen und konnte mich fortan nie wieder unreflektiert an eine Situation anpassen. Ich bin ihm auf ewig dankbar.“
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Kreativität viel mit der Evolution zu tun hat. Diese bedient sich bestimmter kreativer Mechanismen, die auch in den beiden Geschichten eine große Rolle spielten: Mutation, Variabilität der Merkmale und Selektion. Zufällig entstehen im Fortpflanzungsprozess neue Merkmale – zufällig treibt das Schicksal Angela und Hans-Peter zum selben Zeitpunkt an denselben Ort. Dann kommt das zweite Kriterium eines evolutionären Prozesses zum Tragen: die Variabilität der Merkmale. In Bezug auf die Evolution ist damit gemeint, dass sich Merkmale von Lebewesen genetisch ändern können. Wir sind zwar genetisch bis zu einem gewissen Grad determiniert, tragen aber auch Programme in uns, welche die Möglichkeit der Veränderung ermöglichen (in der Wissenschaft als „Epigenetik“ bezeichnet). Wenn sich ein Genpool mit anderen mischt, entsteht etwas Neues, das sich dann im Selektionsprozess behaupten kann, dem dritten Merkmal der Evolution. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert die Ko-Evolution in einer Paarbeziehung: Zwei Menschen mit unterschiedlichen Charakteren treffen aufeinander, verlieben sich, wollen zusammenbleiben – und fangen deshalb an, einige ihrer
Weitere Kostenlose Bücher